Der karierte Koffer

Die naturfarbene E-Wölfin hört Gesang

Sonntag, 6. April 2025 – Montag, 10. April 2025

johle Sonntag den 6. – 16:22 – Pahlhuus/Zarrentin/Landkreis Ludwigslust-Parchim/Mecklenburg-Vorpommern –

Auf der Terrasse vom Pahlhuus, dem Informationszentrum des UNESCO Biosphärenreservates Schaalsee, das an jenem Sonntag sein 25-jähriges Jubiläum feierte, hatte ich mittags die E-Wölfin angebunden. Als ich nachmittags den Lauten der Laute folgte, war mein Fahrrad Teil des Equipments von Hinterhof-Folk (http://hinterhof-folk.de), fand bei meiner Abreise doch glatt ein Metronom in der Satteltasche.

Hätte diese enorme Band wohl verpasst, wäre ich nicht in Susannes Plattdeutsch-Workshop geraten. Bevor wir zum Dichten in niederdeutscher Sprache kommen, sprechen wir über anderes. Zum Beispiel über Susannes Großmutter, die aus der Ukraine als Zwangsarbeiterin ins Mecklenburgische verschleppt worden war und kein Wort Hochdeutsch sprach, nur Platt. „Man kann allens moken aber nich to doll“, hat sie der Enkelin auf den Weg gegeben. Und die macht allerhand. Zum Beispiel ein Buch hat sie geschrieben, das wohl nichts mit Vogelkunde zu tun hat, aber so gut zu meinem letzten Radellogbuch passt:

Und ihr Verlag (http://hinstorff.de) schreibt: „Susanne Bliemel, geboren 1968 in Schwerin, studierte Germanistik und Slawistik in Güstrow, Odessa und Greifswald. Sie arbeitete 25 Jahre als begeisterte Sprach- und Literaturlehrerin, insbesondere für das Niederdeutsche. Sie war Beauftragte des Landes Mecklenburg-Vorpommern für Niederdeutsch und Heimat und sammelte vielfältige Erfahrungen in der Bildungs- und Kulturpolitik. Sie lebt heute als freiberufliche Autorin, Übersetzerin, Sprach- und Kulturvermittlerin in Mecklenburg und moderiert seit 2001 im NDR 1 Radio Mecklenburg-Vorpommern den plattdüütschen Radiotalk „De Plappermœhl“. Für ihr vielfältiges Engagement für die niederdeutsche Sprache wurde ihr 2020 der Fritz-Reuter-Preis der Carl-Toepfer-Stiftung Hamburg verliehen.“

Das wusste ich aber alles nicht, als wir über unsere von kriegerischer und sonstiger Gewalt geprägten Vorfahr*innen sprachen. Ihr Großvater stammte aus dem russischen Zarenreich und geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft, war im Lager in Parchim interniert.

Kriegsgefangene Engländer, Russen und Franzosen aus dem Kriegsgefangenenlager bei Parchim, 1915, Max Missmann

“Warum hast du keine Onkel?“, so heißt Susannes neues Buch. Und handelt auch von Zwangssterilisation. Ihr Vater war das einzige Kind der beiden, und wenn ich richtig gefolgt bin, staatenlos.

Und Susanne hat sich wie ich reisend auf die Spuren ihrer Großmutter gemacht. In einem kleinen ukrainischen Dorf wurde sie aufgenommen wie eine lange Vermisste. Und für mich fühlt sich Susanne nahezu wie eine Verwandte an – siehe auch „Der karierte Koffer fährt nach Neu-Lankau“, dieser Blog von der WELTMUSIKChorwoche wird gerade ins Russische übersetzt.

Wir bleiben dran am Lüften von eisernen und sonstigen Vorhängen und Enthüllung der zugehörigen Vorgänge. Auf „Undeutsch“ und auf Plattdeutsch. Nu aber: wir workshoppen und dichten neue Strophen.

Toppaktuelle Strophen zum Lied „Von Herrn Pasturn sien Kauh“ dichteten wir mit Platt-Expertin Susanne Bliemel, mit der ich ausführlich über Kriege und ihre Folgen sprach. Und ich bin stolz auf die von mir erdachte und von Susanne ins Platt übersetzte Strophe: „Von Fräden sprääkt ehr Testament – sei hett Ossen ut all Länner kennt!“

Wo wir gerade von Frieden sprechen, das Pastorenrind hat ja im Testament betont, dass es Ochsen aller Länder mag und ihm der Frieden am Herzen liegt, sowas geht auf Platt ja glatt mit der halben Wortmenge: Anke Hollerbach, Leiterin des Biosphärenreservatsamtes, das im Pahlhuus von Zarrentin seinen Sitz hat, tat das auch. Am 3. November, das ist der Internationale Tag der weltweit 759 UNESCO-Biosphärenreservate, betonte Hollerbach, dass in diesen Reservaten überall nach Wegen gesucht werde, wie Menschen die Natur nutzen können, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Der Schutz von Wasser, Boden, Luft trage zu einem friedlichen Miteinander der Völker bei, denn „genau um diese Ressourcen werden Kriege geführt“.

Auch bei der Strophe „Dat Biosphärenreservat lärt Genügsamkeit up Ossenort von Herrn Pasturn sien Kauh“ hab ich mitgemischt. Genügsamkeit? Siehe oben. Und als Freundin des Teilens, der Nachhaltigkeit und der Kollektivküche ließ ich auch etwas Brühe mit einfließen: „Von ´ne Kauh ut alle Knäken kann for dat Fest ´ne Bräuh ut käken!“ Knäken sind Knochen und Bräuh ist Brühe.

Das ist ein Charolais-Bulle, wie er auch in der Neuenkirchener Niederung weidet, keine Kuh, und auch kein Ochse. Das alte Lied endet nämlich damit, dass Herrn Pastuurn sien Kauh „´n Ossen west“.

Und dann hab ich noch meine Begegnung mit den großen naturfreundlichen Pflanzenfressern vom Vortage eingebracht: „De Natschonalpark is gewieft, hällt Kauhkinner hier extensiv“. Ohne Susanne hätte ich das natürlich nicht hingekriegt. Und ich will jetzt auch unbedingt „De Plappermoehl“ (NDR 1, Radio MV/https://www.ndr.de/radiomv/podcast4428.html#items) hören, wofür Susanne mit nicht erlahmender Begeisterung mit Mecklenburger*innen „aller Länder“ spricht. Seit 1983 hat die Hörfunk-Crew von der Plappermoehl mehr als 250 Städte und Dörfer besucht. Sie meldet sich jeden Monat aus einem anderen Ort des Landes mit „ne lütt Stunn Lüdsnack, Musik un süst noch wat“.

Susanne wiederum hätte ich nicht getroffen, gebe es Kranich Kalypso nicht, der hat mich nämlich im Seminarraum festgehalten.

Puppenspielerin Friederike Hellmann und das Bläserquintett blechlotsen gehören zum Partner*innennetzwerk des Biosphärenreservats (http://www.schaalsee.de). Es unterstützt unter dem Motto FÜR LEIB UND SEELE auf diverse Weise die Entwicklung der Region. Puppenspielerin und Blechbläser bilden zusammen „Kalypso“: Konzertvergnügen für Menschen ab drei Jahre.

Die Blechbläser spielen auch wirklich einen Calypso, der vereint afrikanische Einflüsse mit denen mediterraner Troubadouren und tröstet darauf hin, dass die Kraniche im Mittelmeerraum überwintern.

Und weil sie so schön sind, lege ich nun die Kraniche nach, die bei mir an der Wand hängen. Sie stammen vom Hamburger Maler Tom Hops, er gehörte zur Verschollenen – auch Vergessenen – Generation. So werden deutsche bildende Künstler, Musiker und Literaten der Jahrgänge zwischen 1890 und 1914 bezeichnet, die durch die Vorgaben zur Kunst im Nationalsozialismus an ihrer Wirkung gehindert wurden, etwa durch Ausstellungs-, Veröffentlichungs- und Aufführungsverbot.

Susanne – neben dem Whiteboard mit den neuen Kauh-Strophen – bringt nun mittels der plattdeutschen Kuh Blechbläser und Barden zusammen, und wir stimmen alle heftig ein.

Mein nahezu sphärisch schöner Tag, der mich mit der Kultur des Reservates in Einklang brachte, klang delikat aus. Niemand kocht wie sie. Niemand fermentiert wie sie. Die Zucchini aus dem Garten, in dem ich gerade noch mal Glück hatte und um 18:30 Uhr die letzte Portion Bratkartoffeln bekam – auch die exquisit! -, legt die legendäre Köchin mit märchenhaften Zutaten ein, knackig, würzig, der Hammer!

Um etwas zu essen zu bekommen, begibt eine sich am besten gegen 17:30 Uhr hinters Haus, an die Küchentür (links). Und um beim Schlemmen dem Sonnenuntergang beizuwohnen, nimmt eine auf der grünen Bank Platz.

Der Kuchen ist natürlich auch hausgemacht – und überirdisch:)

Chefin Sieglinde Schröder und ihre Crew schreiben übers „Gasthaus zum See“ in Neuenkirchen (https://www.das-gasthaus-zum-see.de): „Sehr geehrte Gäste, im Jahre 1990 erwarben wir unser Elternhaus zurück, zogen von Zarrentin nach Neuenkirchen und bauten in den Jahren 1991-1992 das Haus wieder zu einer Pension und Gasthaus zurück. Unter unserm Dach werden schon seit über 200 Jahren Gäste bewirtet. Am 26.08.2013 wurde das Haus 250 Jahre alt. Wir bieten konsequent regionale Küche auf der Basis regionaler Produkte an. Vieles kommt aus unserem hauseigenen, ökologisch bewirtschafteten Gemüse- und Kräutergarten.“ Und ich bin hin und weg: die machen da keine Show, aber das Essen ist ein Ereignis, eine Art Naturereignis.

Am nächsten Tag lerne ich meine Wirtin näher kennen. Wir reden praktisch über alles, und ich bin schwer beeindruckt von all ihren Talenten, sie schmiss die Arbeit in der Diakonie, als Frontfrau in sieben Männerbands, einen Reiterhof und bestimmt noch vieles mehr. Und nun hat sie in Neuenkirchen eine himmlische Herberge geschaffen.

Heidi Adelaidem Lenzner setzt den großen Hut auf und macht sich an die Gartenarbeit hinter ihrem Gästehaus Elfenkirchen (adelaidem.lenzner@web.de)

Heidi und ich haben manches gemeinsam. So habe ich mir im vergangenen Jahr, in dem wir beide 70 wurden, zum Geburtstag Schriften des römischen Philosophen Seneca geschenkt, über die Seelenruhe, die jede/r Einzelne sich durch naturgemäßes Leben und den Dienst an der Allgemeinheit erwirbt.

Und sie schwört auf ihren täglichen Stoiker. Wir zwei hatten uns ausführlich auch mit den beißenden und himmelschreienden Ungerechtigkeiten um uns herum befasst, auf der Terrasse, wo eine die Kraniche rufen hört, die Katzen über die große Wiese schleichen sieht und Primeln, Hyazinthen und Narzissen blühen, von Wichtigtuern, Undankbaren, Egomanen, Lügnern, Eifersüchtigen und Spinnern – aller Geschlechter – gesprochen, „vom Bösen“, wie Heidi sagt, und uns dann beim Stoiker des Vortages (aus Ryan Holiday/Stephen Henselman: Der tägliche Stoiker), Marc Aurel, informiert: diese Leute seien diesen Leiden unterworfen, weil sie gut nicht von böse unterscheiden könnten. Er sagte sich selbst: „Niemand kann mich ins Hässliche verstricken“.

Ich singe Heidi erstmal mein Lieblings-Mantra vor:

Suddhosi Buddhosi Niranjanosi
Samsāra Māyā Parivar jitosi
Samsāra svapanam traija mohan nidram
Nan janma mrityor tat sat svarupe

Du bist für immer rein. Du bist für immer wahr.
Und der Traum dieser Welt kann dich nicht berühr’n.
Vergiss die Abhängigkeit, vergiss die Verwirrung.
Und flieg zu dem Ort jenseits aller Illusion.

Und wir nehmen uns den Stoiker des Tages vor. Epiktet empfiehlt, sich Hochmut und Misstrauen auszutreiben, denn Hochmut lasse nichts zu, als die eigene Meinung, und Misstrauen gehe von der Annahme aus, dass es unter der Flut der äußeren Umstände kein Glück geben könne.

Wir Frauen im Elfenreich finden Glück. Die Nachbarin in der Elfenschule (http://www.elfenschule.eu) empfiehlt dringend, den Verstand mal über Bord zu werfen und ich lasse mir von Uwe die „Außendienstmitarbeiter“ in der alten Schule zeigen, wo sie alle an ihren guten Werken und zum Wohle der Allgemeinheit arbeiten: von Ines Bargholz geschaffene Elfen, Feen und sonstige gute Geister aller Ausdrucksweisen.

Und dann muss ich mich auf den Weg machen.

Die Kneeser Bek im Naturschutzgebiet „Moorrinne von Klein Salitz bis zum Neuenkirchener See“. Es gehört zum Biosphärenreservat und umfasst den Bachlauf mit begleitenden Erlen-Eschenwäldern, Bruchwäldern und Moorbereichen.


Und weil es mir dort so gut gefällt, radle ich nochmal übers holprige Pflaster, lasse die Stintenburger Mühle links liegen. Mittlerweile weiß ich, dass sie zur gleichnamigen Burg auf der gleichnamigen Schaalsee-Insel gehört. Und das sich dort Widerstandskämpfer Albrecht Graf von Bernstorff und Marion Dönhoff getroffen haben. Ein Foto von 1937 zeigt die beiden Nazi-Gegner vorm Schloss Stintenburg. Sechs Jahre später wurde von Bernstorff, damals Besitzer der Stintenburg, verhaftet. In den letzten Kriegstagen wurde er in Berlin ermordet.

Mit dem Rad nach Büchen zu kommen, ist eine interessante Herausforderung, denn die A24 stellt eine nahezu unüberwindliche Barriere dar. Schiebe die Wölfin, dicht ans Geländer gedrängt auf einem schmalen Sandstreifen, der Fuß- und Reifenabdrücke zeigt, über die Autobahnbrücke und schlage mich quasi illegal durch die Lüttower Tannen in die Senke der Schaale. Dies ist der Abfluss des Schaalsees. Weiter gehts am Nieklitzer Holz entlang, ich folge stur der Route auf meiner ADFC Regionalkarte, erreiche Granzin und dann Greven. Dort überquere ich die Boize, weiterhin weitgehend allein in Wald und Flur. Nun soll ich, bei sinkender Sonne, in einen auf der Karte als unbefestigt gekennzeichneten „Sandweg“ einbiegen. Kein Schild und kein Mensch weit und breit. Bestimmt hat Ines mir ein paar Elfen mitgeschickt, denn ich erreiche tatsächlich den Kiefernwald Langenlehster Heide:

Wohlgemut der untergehenden Sonne entgegen, allein aber nicht einsam.

Die naturfarbene Wölfin hat’s erspürt.

Und auch in Büchen geht es ohne jede digitale Unterstützung und ohne Fahrplan anarchistisch analog und wie von Elfenhand geleitet weiter. Ich rolle auf den Bahnsteig, dort ist gerade der Zug nach Hamburg eingefahren. Ich habe kein Fahrradticket und finde das Fahrradabteil nicht, der Schaffner verhilft mir zu beidem und die naturfarbene Wölfin und ich rollen voller glückbringender Eindrücke in den Sonnenuntergang.

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