Der karierte Koffer

Der karierte Koffer fährt nach Lübeck

6. und 7. November 2024

begegne Siljá und Silke Donnerstag den 7. – 17:45 – Klingenberg/Lübeck-Altstadt –

und nerve euch diesmal nicht mit den Katastrophen des kollektiven Nicht-Flug- und Nicht-Privatkraftfahrzeug-Reisens, versprochen. Wer diesen in Jahrzehnten von Misswirtschaft jenseits ehemals als typisch deutsch geltenden Standards wie Wertarbeit, perfekte sachdienliche Bürokratie, Pünktlichkeit und Gründlichkeit von profitorientierten Menschen gemachten Missstand nun noch nicht begriffen hat … ich schreib das jetzt mal nicht, will nicht lästern:). In Lübeck habe ich im Servicecenter am ZOB dem Mitarbeiter der Stadtwerke Lübeck Gruppe GmbH, die unter anderem für 50 Buslinien zuständig ist erzählt, was er nicht wusste und auch bei Google nicht ertippen konnte: dass seine Stadt über zwei Jugendherbergen verfügt, eine davon in der Mengstraße. Diese Straße kannte er auch nicht. Dabei ist sie laut wikipedia.de – durch die Buddenbrooks von Thomas Mann – weltweit die bekannteste Straße des ebenfalls weltweit bekannten Weltkulturerbes Lübecker Altstadt und auch dessen einzige, die die Vorfahren zweier Nobelpreisträger beherbergte. Hier wohnten nämlich die Großeltern Thomas Manns und der Vater von Willy Brandt, der Lehrer John Möller.

Bei mir ist diese Straße – das mit John Müller wusste ich vorher auch nicht -, deren historische Bebauung mit Häusern wie auf dem Aquarell von 1847 im unteren Teil, also nahe der Untertrave, weitgehend erhalten blieb, wegen der Nummer 33 berühmt. Dort finde ich hin, auch wenn Busse das Innere der Altstadt-Insel gerade großräumig  umfahren. Transportiere meinen karierten Koffer, mit dem ich seit fast einem Jahrzehnt zwischen Amsterdam und Krasnojarsk, Tromsø und Astana unterwegs bin, wenn es geht, mit der Eisenbahn, vom Lübecker Bahnhof über den Linden- und den Holstentorplatz und die Holstentorbrücke und schlage mich dann nach links. Eingecheckt werde ich wie eine alte Bekannte und erklimme die steilen und hohen Treppenstufen zu meinem Einzelzimmerchen mit Blick über Lübecks rote Dachziegel. Wie still und friedlich es ist! 

Hab aber erstmal keine Zeit für meine karges und exquisite Klause da oben, muss gleich weiter zum Klingenberg. Auf dem laufen Pferdemarkt, Sand-, Mühlen-, Aegidien- und Schmiedestraße zusammen. Auf der Bank vorm wie ein leuchtendes Iglu erscheinenden InfinityDome stärke ich mich vor der IMMERSION 360 Grad darin mit einer mitgebrachten heißen Linsensuppe. Und mein Banknachbar, ein Mann mit dicken blonden Locken und einer Flasche Korn sagt: „Wir kennen uns aus Altona-Altstadt, über Angie“. Das knallbunte und hinreichend chaotische Hamburger Quartier Altona-Altstadt ist seit einem Jahrzehnt der Ort meiner ökologisch-sozialen Draußenarbeit mit allen anwesenden Wesen. Der rückt mir sofort in weiteste Ferne, als ich eine Frau in einer samischen Tracht erblicke. Bin in den hohen Norden gebeamt, nach Sápmi, wo Sam*innen leben – und tolle Filme machen. Und irgendwie kommt mir ihr Gesicht so bekannt vor! Sie trägt kofte, eine samische Tracht. Es gibt viele davon, wie auf dem Foto der Repräsentant*innen von sametinget, dem samischen Parlament zu erkennen:

Und ich frage sie nicht nach der kofte (Tracht), weil ich bei Ella Marie Hætta Isaksen nachgelesen habe. Die 1998 geborene norwegisch samische Aktivistin, Autorin, Schauspielerin und Sängerin hat ein Buch darüber geschrieben, warum zwar jede/r wissen soll, dass sie Samin ist, aber bitte bestimmte Klischeefragen nicht immer wieder stellen. Lasse das also. 

Gehe auf die Dame in leuchtendem Rot zu, frage, ob sie Filmemacherin ist. Das ist, und heißt Siljá. Es ist nämlich Siljá Somby! Und ich sehe nachträglich nach in Der karierte Koffer fährt nach Norden. Demnach erlebte ich am 19. Januar 2023 erlebte beim Tromsø International Filmfestival Folgendes: „Siljá Somby lüftet mir an diesem Vormittag mal kurz die Schädeldecke. Mit ihrem Film Daate Dijjien über die weltenumspannende Kraft der goavddis, meavrresgárri (englisch rune drum). Giitu! Das ist das samische Wort für danke. Habe es von Asta aussprechen gelernt. Rund um uns herum ertönen die Schläge. Und die heilige 360-Grad-Percussion rüttelt an den Synapsen…. Und ich bin jetzt neugierig auf die Drehbuchautorin und Regisseurin. Finde sie in nordicwomeninfilm.com. Diese Datenbank umfasst weibliche Filmschaffende aus Dänemark, Norwegen und Schweden und will„ein großes Stück unbekannte Geschichte“ vermitteln, die der Rolle und Bedeutung der Frau in der Filmindustrie. „Wir wollen über die Filmgeschichte aus feministischer Perspektive schreiben und sie umschreiben“, heißt es auf der Site. Über Somby erfahre ich, dass sie 1971 in Deatnu (norwegisch Tana), einer Gemeinde, deren Einwohner größtenteils Sámi sind, geboren wurde und sich neben Drehbüchern und Regie der Weiterentwicklung der samischen Filmproduktion widmet. Giitu, Siljá Somby!“

Die 66. Nordischen Filmtage – angefangen hat dieses wunderschöne Spektakel in alten Gemäuern, wie meine Lübecker Freundin Silke mir neulich vor der Vorstellung, während sie den uns allen so wohlbekannten und beliebten Tango spielen, zuflüstert, vor an die siebzig Jahren, da war selbst ich noch zu klein fürs Kino, mit zehn Cineast*innen in einem Lübecker Wohnzimmer – zeigen in diesem Jahr ist Sombys neuer Kurzfilm zu sehen. Er heißt Duiddo, spielt am verborgenen Ort Rássegáldu auf dem Hochplateau der Finnmark und zeigt, wenn mich nicht alles magisch getäuscht hat, von der ehrbaren herbstlichen Ernte der Wurzeln von Angelica archangelica, Erzengelwurz.

anprobiere Freitag den 8. – 13:13 – Mühlenstraße/Lübeck-Altstadt –

vorher habe ich an diesem Vormittag äußerst eloquenten und erfinderischen Rebellinnen gelauscht im Dokumentarfilm Once Upon a Time in a Forest, in dem die Finnin Virpi Suutari allen, die hinsehen, vor Augen führt, wie radikal und brutal es ist, die letzten Lebensräume aussterbender Pflanzen- und Tierarten für die Produktion überwiegend überflüssiger Artikel abzuholzen. Und beschlossen, dass die Welt am besten sofort auf so etwas verzichten sollte, bin aufgerüttelt und auch aufgemuntert von den betörenden Naturbildern, und betrete voll aus dem Bauch heraus Deutschlands ältesten Wäscheladen. Was soll ich schreiben? Ein Teil brauchte ich wirklich, das lange Nachthemd eigentlich nicht, auch nicht dieses Naturstoff-Shirt, das glänzt und wärmt und glücklich macht, aber unbedingt das Gespräch mit Frau Schulz. 

Von ihr lerne ich in kürzester Zeit jede Menge: TORKUHL, heute heißt es Fachgeschäft für Unterwäsche – Bademoden – Home- & Nightwear, gibt es seit mehr als 250 Jahren. Bis zur Bombennacht im März 1942 befand sich das Stammhaus der Firma C. G. Torkuhl in Fünfhausen. Diese schmale Straße in der Lübecker Altstadt wurde 1290 erstmals erwähnt, sie verbindet die Beckergrube mit der Mengstraße, wo der karierte Koffer gerade im 4. Stock, schon fast über den Dächern, in der Jugendherberge steht, wo ich in uralten Gemäuern eine sehr stille Nacht hatte. Der ursprüngliche Standort meines neuen alten Wäscheladens heißt nach einer Ratsherrenfamilie, die Vifhusens hatten auch die Finger im Spiel bei der deutschen Beherrschung der Liven, Esten und Letten, das führt jetzt zwar in die Gegenden meiner Vorfahren, aber hier zu weit. Fünfhausen wurde beim Luftangriff auf Lübeck 1942 fast vollständig zerstört.

Nun sitzt Torkuhl am Mühlendamm, und ich werde so dermaßen zufriedenstellend beraten und bedient. Rettet die Fachgeschäfte! Um dieses mache ich mir keine Sorgen, Frau Schulz erzählt mir, dass sogar Menschen aus der Schweiz den Einkauf bei ihnen in Lübeck in ihre Urlaubsplanung aufnehmen, und dass sie – noch ein Alleinstellungsmerkmal – ganzjährig Bademode verkaufen, aber von Vielen der Start des „großen Badesortiments“ im Februar (!) als Event wahrgenommen wird. Ich erfahre zudem, dass die Mitarbeiter*innen für jede nützliche Hinweise auf Lager haben, aber keine Ware (what you see is what you get), und dass sie jedes Teil selbst und eigenhändig auswählen. Für meinen Bedarf empfiehlt sie eine alte deutsche Firma (die Anita Dr. Helbig GmbH gibt es seit 1886), die sich entschieden hat, auf Kunststoff weitgehend zu verzichten. Und neben bewährten Modellen auch schön nützliche neue Kreationen hervorbringt. Es gibt bei Torkuhl auch aus Meeresmüll recycelte Bademäntel.

Ihr Chef, Jens Torkuhl, ist an diesem Tag ausnahmsweise abwesend. Wegen der Beerdigung seiner Mutter. Sie ist am 20. Oktober im Alter von 91 Jahren verstorben und war 40 Jahre lang im Geschäft tätig. Mit Jens Torkuhl ist nun die 10. Generation am Start. Die Spezialitäten – als Biologin schreibe ich mal: vom Aussterben bedrohte Waren und Dienstleistungen – seien Qualität, sowohl bei den Waren, als auch in der Beratung, Wertigkeit, Haltbarkeit, aber auch „der richtige Riecher“, verrät Schulz. Dafür dass es passt, auf Anhieb, hat die wirklich sehr erfahrene Fachverkäuferin ein nahezu untrügliches Gespür. „Ich behalte das gleich an“, bekommt sie regelmäßig zu hören, und auch heute von mir. Das passt!

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