10. August 2024
staune Samstag den 10. – 16:33 – Elfstedentocht Monument/ Wijns –
viele eindrucksvolle Stunden vorher genoss ich am frühen Fokjes kunstvoll teilverwilderten Garten, in dem Vielfältiges leben darf. Zuerst blieb es ganz still, dann war samstägliches Treiben zu vernehmen.
Fokje kam von ihrem Besuch in Heerenveen zurück, einer weiteren dieser friesischen Ortschaften an von der Binnenschifffahrt genutzten Wasserwegen. Das Besondere an Heerenveen – vor allem für mich – ist eine Fahrradfabrik. Seit 1904 werden dort Batavus-Räder wie das unten abgebildete transportfiets gebaut.

So ein Transport-Zweirad hatte ich auch mal, in den 1980ern, bis ich es putzte. Dann leuchtete es in seinem geheimnisvollen Dunkelgrün im Hamburger Uni-Viertel wohl zu verlockend. Hab fast geheult, als es gestohlen wurde – und sehr fiese an den Wilden Westen gedacht (hab ja abends damals zur Entspannung nach Zeitungmachen u.a. zu gerne möglichst alte Western angeguckt:)) und die Strafen für Pferdediebstahl …

Im friesischen Heerenveen werden seit mehr als hundert Jahren, die vielleicht besten Fahrräder hergestellt.
Fokje lud mich zum Lunch mit ihrem Bruder ein. Wir radelten nach Wijns. Und es machte Riesenspaß, jede*n Radler*in mit „höi“ grüßend, Fokjes leuchtend rotem Kleid hinterher zu fliegen durchs weite platte Noardeast-Fryslan (Nordost-Friesland).

Blick auf Wijns, Jan Dijkstra
Winjs liegt an der Dokkumer Ee, sie verbindet Leeuwarden mit dem Wattenmeer. Auf Niederländisch heißt so eine Schifffahrtsstraße trekvaart. Diese Wasserwege wurden ursprünglich für trekschuiten angelegt, für Lastkähne. Mit der Beförderung von Lasten, Vieh und Personen nach Fahrplan wurde im 15. Jahrhundert der öffentliche Nahverkehr zu Wasser geboren, beurtvaart auf Niederländisch.

Wijns liegt auch auf der Route der Elfstedentocht, Elfstädtetour. Damit sind wir wieder bei einem Friesensport, reedride heißt er auf Friesisch. Die Mutter aller Eisschnelllauf-Ereignisse, das Rennen durch elf friesische Orte, wird derzeit durch die rasant fortschreitende von eher wenigen Menschen verursachte, aber leider nicht von genügend vielen Menschen ausgebremste, Erderwärmung ausgebremst. Von Jahr zu Jahr schmelzen die Chancen, dass die Dokkumer Ee ausreichend zufriert. Davon später mehr, erstmal gehts ins Eetcafé „De Winze“, direkt an der fiets- en voetveer (Fußgänger*innen- und Radler*innen-Fähre) über die Dokkumer Ee, mit einer Terrasse direkt am Wasser.

Blick auf Wijns, Jan Dijkstra
Wir treffen dort Fokjes Bruder Jaboek und seine Gefährtin Martha. Er ist zur See gefahren, war zehn Jahre auf großer Fahrt, hat, wie er sagt „auf kleiner Fahrt“, in Hamburg Renate kennengelernt, in den 1960ern, und interessiert sich für meine Forschungsfahrten, die großen und die kleinen. Habe immerhin auch ein Seefahrtsbuch:) und war auf dem Roten Meer, dem Nördlichen Polarmeer, der Nordsee – bei verschiedensten Wettern.

Hatte einen großen fetten, auf niederländisch hartig – herzhaften – Pannekoken und herzliche sowie herzhafte Gespräche. Ist nicht zu fassen manchmal, wie sich Botschaften zusammenspinnen – Seefrauengarn. Wir alle weben an einem Teppich, der viele Generationen zurück – Jaboek ist in Indonesien geboren, wo er zwei Brüder „ans Kriegsgeschäft“ verlor, wo auch die Geschichte von SONNY BOY teilweise spielt (lese das Buch aus dem Tauschschrank in Gytsjerk in kleinen Portionen auf Holländisch) – und auch nach vorne reicht, wie ein Läufer – so nannte meine Mutter den schmalen Teppich im Flur – dessen Enden nicht sichtbar sind. Das Gemälde von Nicolaas Pieneman (unten) zeigt die Um- und Zustände in heutigen Indonesien 1830, als es noch Niederländisch-Indien genannt wurde.

Dieses Bild vom damaligen Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien spricht für sich – und gegen die Kolonialherren.
NACHTRAG: Auch den düsteren Verbindungen möchte ich nicht ausweichen, anders geschrieben: Gedenken und Bedenken unbedingt teilen, zuhören, nachlesen, verstehen.
Also lese ich nun, drei Monate später, worauf Aukje mich hingewiesen hat: Waldemar Nods – sein Sohn wurde in der Kindheit Sonny Boy genannt, und so lautet auch der Titel eines Buches, das mir Aukje ans Herz und an den Verstand gelegt hatte – wurde von den Nationalsozialisten in Neuengamme interniert, dort also, wo gleich südlich der Gedenkstätte für das Konzentrationslager, mein Pachtland liegt, wo ich mich gerade um einen Ort der Begegnung zwischen auswärtigen Besucher*innen der KZ-Gedenkstätte und deren heutigen Nachbar*innen bemühe, Arbeitstitel Garden 111 – a garden is the opposite of war.
Nein, dass ich den niederländischen Text nicht verstehe, ist keine Entschuldigung, begreife meine Sprachbegabung als riesiges Geschenk einer begnadeten Hörerin und Leserin und nutze sie schamlos aus, wo immer ich mich gerade rumtreibe. Ich hatte Angst. Und es musste erst der 13. November kommen, der Tag vor meiner vermutlichen Begegnung mit Max Nods, Enkel von Waldemar Nods, dem surinamischen Häftling des KZ Neuengamme.
Also übersetze ich Annejet van der Zijls Text, den nach Aukjes Auskunft ganz nederland gelesen hat, nach bestem Wissen und Gewissen. Und picke gezielt das heraus, was wir Deutschen nicht wissen (wollen?): Nods, als Student aus Surinam 1928 dort eingewandert, war in den Niederlanden als Widerständler von den deutschen Besatzern arrestiert worden und hatte in Neuengamme im Postkontor gearbeitet. Nachdem die Postverbindungen gegen Kriegsende zusammengebrochen waren, bekam er eine andere Administrationsaufgabe (an anderer Stelle in diesem Buch namens SONNY BOY heißt es, die Nazis hätten people of colour nicht aus den Lagern gelassen, für Zwangsarbeit andernorts, weil sie „rassische Vermischung“ fürchteten, könnten sie doch „het arische ras met hin bloed besmeuren“). Nods Zustand seinen Zustand beschreibt van der Zijl mit „verwildert, hungrig und kälter als er es jemals für möglich gehalten habe“, aber die warmen Erinnerungen an seine Heimat Surinam seien ihm auf einem Kontinent, der nicht der seine, in einem Krieg, der auch nicht der seine war, hinter deutschem Stacheldraht sicher vergangen.
Im April 1945 wurden auf dem großen Appellplatz von Neuengamme weiterhin am Sonntag Musik- und Sportveranstaltungen organisiert. Im Hintergrund wären die Kontouren von Galgen mit daran baumelnden Leichnamen zu sehen gewesen, schreibt die niederländische Non-Fiction-Autorin, eine der meistgelesenen und bekanntesten ihres Landes. In dem katastrophal überbelegten Lager seien, als es sich abzeichnete, dass ihr System vom Einsturz bedroht war, die Excesse der SSler immer heftiger geworden. Die Panik der Bewacher habe ständig zugenommen. Amerikanische Soldaten, wären so geschockt gewesen von dem, was sie im KZ vorgefunden hätten, dass sie Einwohner des nahegelegenen Neuengamme gezwungen hätten, mitzukommen, um mit eigenen Augen anzusehen, „was dort in ihrem Namen angerichtet worden war“.
ENDE DES NACHTRAGES, zurück zur Fährfrau in Wijns und zu dem, was Aukjes Bruder Jabok von seinem Vater erzählte, einem Indologen und Jurist, der auch indonesisches Recht studiert hatte. Er war Gegner der Kolonialisierung und forderte Indonesiens Unabhängigkeit – und verlor daraufhin seinen Job als Angestellter des Niederländischen Königreiches. Die mehr als 17.000 Inseln in Südostasien, die Karte aus der französischen Wikipedia zeigt das Malaiische Archipel ohne Herrschaftsansprüche, erlebten unter anderem einen Unabhängigkeitskrieg gegen die Niederlande, der 1949 mit der Unabhängigkeit von weiten Teilen Indonesiens endete.

Teile der ehemaligen niederländischen Kolonie, Bright Raven
Auf der Dokkumer Ee fuhren Freizeitschiffe verschiedenster Couleur vorbei. Jaboek erzählt vom Fierljeppen, dem friesischen Stabhochsprung, den er als Kind betrieben hat. Es kommt dabei drauf an, mit Anlauf möglichst hoch in einen langen Stock zu springen und sich anschließend schnell nach oben zu schwingen, um danach so weit wie möglich auf der anderen Seite eines Gewässers zu landen.

Fierljepen, Stabhochsprung auf Friesisch
Jaboek fragte nach einer 500 Jahre alten Linde in Bremen, und den Bremer Stadtmusikanten, Fokje sang ein deutsches Lied (einen Schlager von 1957, den ich scheinbar frühkindlich abgespeichert hatte, wie mir im Nachhinein klar wurde), das sie von einer Helferin auf dem elterlichen Bauernhof gelernt hat: „Denke heute nicht an morgen, denke heute nicht zurück. Mach dir bitte keine Sorgen, lebe nur den Augenblick. Grad die allerschönsten Stunden gehen viel zu schnell vorbei, denn das Glück, das du gefunden, bleibt dir nicht für immer treu. Um die (L)(l)iebe, um die (L)(l)iebe – Pinke, Pinke – dreht sich alles auf der Welt!“ Von Pinke, Pinke (zu der das kleine L gehört), hat Fokje nicht gesungen, nur von der Liebe. Pinke ist ein andres Wort fürs Geld und verweist vielleicht aufs folgenreiche Wirtschaftswunder, den Nachkriegsboom, der oder das für einige in den 1950ern einsetzte. Auch heute noch setzen ja viele voll auf Pinke, Pinke, weiterhin, Wachstum ohne Ende, der u.a. das Ende vieler Pflanzen- und Tierarten bedeutet. Wir vier kamen auch vor der Tür des wunderschönen Lokals nicht voneinander los, steckten weiterhin die Köpfe zusammen.

Jaboek zeigte mir ein Bild seiner Mutter, einer liebenden Frau, wie er sagt. Sie war während des Japankrieges, 1941 hatten die Niederlande mit den USA u.a. Japan den Krieg erklärt, schwanger und ihr kleiner Sohn starb früh. Auch der ältere seiner jüngeren Brüder – Jabok ist der älteste der sieben Geschwister – starb „am Krieg“, wie er es sagt.

Sind dann noch auf den Friedhof der uralten Kirche von Wijns gegangen, wo ich meine Sammlung von friesischen Vornamen (männlich? weiblich?) ergänzte: meine Favoriten sind Sipke, Siske, Dieuwke, Sietse, Sijbren, Jelle und Trijutje. Und einen Windrichtungsanzeiger mit einem Kiebitz fotografierte.
Auch übers nachhaltige Eiersammeln früherer Zeiten hatten wir beim Mittagessen gesprochen. Als die Leute aus den Städten kamen, die nicht gelernt hatten, gut mit den Vögeln umzugehen, wurde 1970 das Sammeln von Kiebitzeiern verboten. Und über den niederländischen Nationalvogel Grutto. Im Plattdeutschen wird sie auch Greta genannt, die Uferschnepfe (Limosa limosa). Diese Art brütet auf Feuchtwiesen, die immer mehr zerstört, trockengelegt, betoniert und versiegelt werden, daher steht sie sowohl international als potentiell gefährdet auf der Vorwarnliste der Roten Liste gefährdeter Arten und auf der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands.

Dann brachte mich Fokje zum Elftsteden-Monument, auf dem ihr Bruder und ihr Vater als Medaillenträger abgebildet sind. Sie erzählt, dass ihr Vater sich die Zehen abgefroren hat, und doch immer wieder an den Start ging.

Dieses Monument wurde errichtet, als 1985 nach jahrzehntelanger Pause nach dem extrem harten Winter von 1963 wieder das erste Wettrennen ausgerufen wurde, mit den friesischen Worten It sil heve, es soll geschehen!

Es sollte auch geschehen, dass mich an jenem Tag noch Gerbrig auf einen Kaffee in ihr Bauernhaus vom Anfang des 20. Jahrhunderts lud, wo mein IPhone aufgab – ich konnte nicht fotografieren – aber nicht mein Geist. Fokje qualifiziert uns beide als geistreiche Frauen (mich zudem als Influencerin) und diese Begegnungen sind nahezu unbeschreiblich. Legt mir Gerbrig doch den Bericht einer Alleinwanderung zum Nordkap vor und betont bei dieser Gelegenheit nochmal, dass bei den Sámi Mann und Frau gleichberechtigt waren; rede ich doch über die Mennoniten in der Weichselniederung, die dort Gebäude errichteten wie das, in dem Martha Neubert, nicht meine Schwiegermutter, aber Großmutter meiner Tochter Marlene, aufwuchs … Ohne jede Mühe kamen wir von Hölzchen auf Stöckchen und wieder zurück. Ihr Enkel spielt mit mehr als hundert Jahre altem Holzspielzeug, das zum Inventar des Hofes gehörte, als sie ihn übernahmen; sie zeigt mir eine kunstvoll gearbeitete schwere Holzschatulle mit Entarsien (ebony and ivory), die sie ihrer Mutter von einer Afrikareise mitgebracht hat.

Gerbrig Sikma ist 1942 geboren und erzählt mir von ihrer Taufe. Sie ist wie Fokje Mennonitin, Anhänger einer reformatischen religiösen Bewegung aus dem 16. Jahrhundert, die ihren Namen vom friesischen Theologen Menno Simons – Jahrgang 1496 – ableitet, und zur Tarnung brauchte, davon gleich. Gerbrig ließ sich freiwillig taufen, ihre sogenannte Gläubiger*innen- oder Wiedertaufe war die bewusste Bekräftigung ihres Glaubensentscheid vor der Gemeinde.
Gerbrig Sikma ist 1942 geboren und erzählt mir von ihrer Taufe. Sie ist wie Fokje Mennonitin, Anhänger einer reformatischen religiösen Bewegung aus dem 16. Jahrhundert, die ihren Namen vom friesischen Theologen Menno Simons – Jahrgang 1496 – ableitet, und zur Tarnung brauchte, davon gleich. Gerbrig ließ sich freiwillig taufen, ihre sogenannte Gläubiger*innen- oder Wiedertaufe war die bewusste Bekräftigung ihres Glaubensentscheid vor der Gemeinde.

Namensgeber der Mennoniten: der Friese Menno Simons
Das war im 16. Jahrhundert eine lebensgefährliche Angelegenheit, denn die mit den etablierten Religionsvertreter und die eng mit ihnen kooperierenden Regierungen sahen in der Täuferbewegung, dem radikalen und eher linken Flügel der Reformation, die nicht nur massive Kritik an den großen Kirchen übte, sondern sich auch teilweise mit den Aufständen der Bauern solidarisierte, eine Gefahr für ihre etablierte weltlich-religiöse Autorität. Auch Martin Luther sah in den Anhängern der freiwilligen Taufe,, „Rottengeister und Ketzer“, die man ohne Verhör u.a. aburteilen solle.
Als der Reichstag des Römisch-Deutschen Reiches 1529 die sogenannte Wiedertaufe unter Todesstrafe stellte, weil ihnen bei der Kindertaufe Gott als der Handelnde, und die freiwillige Taufe als gegen den Allmächtigen gerichtetes Denken und Handeln galt, schlüpften die Mennoniten aus dem Mantel der Wiedertäufer*innen unter den ihres Namensgebers. Und entgingen so der Bedrohung.
Dann spricht Gerbrig vom Mais, dem Futter für die Kühe, auf Grund von starken Regenfällen „zur falschen Zeit“, können sie nicht mähen. Kleine Betriebe wie ihr Familienhof seien überlastet.
Dann schwenkt sie wieder zu den Kindern, die ihres Erachtens all die Zusammenhänge, die natürlichen und die gesellschaftlichen, von der Grundschule an lernen sollten.
Sie hat als Kindergärtnerin gearbeitet. Und legt mir nun ein Buch auf den Kaffeetisch, neben ihren extrem leckeren Kuchen: Myra de Rooy: In de lengte – 3000 km Solo door de Noorse bergen. Auf ihrer Alleintour vom südlichsten Punkt Norwegens bis zum Nordkap sprach die Autorin auch mit Sámi, unter anderen mit der Künstlerin Mari Boine (siehe: Der karierte Koffer fährt nach Norden).
Wir sprechen jetzt wieder über Landwirtschaft. „Nicht die glücklichsten Jahre“ seien es gewesen, als sie ihren Eltern auf dem Hof half. Später, als Erzieherin, hat sie in den sechswöchigen Ferien ausgedehnte Reisen unternommen, immer aufnahmebereit und aufgeschlossen für neue Eindrücke und Erlebnisse.

Dieses Bild finde ich am nächsten Tag in Fokjes Bibliothek, so ähnlich sieht Gerbrigs Milchhof aus.