Der karierte Koffer

Der karierte Koffer fährt nach Fryslân, Teil 14

7. August 2024

pflücken Mittwoch, den 7. – 17:03 – ploekbos/foedselbos (Pflück-/Nahrungswald) – Hurdegaryp –

morgens nehme ich Abschied von Ian, als würden wir uns schon sehr lange kennen, wer weiß? Zum vorherigen Reisetag – Folge 13 – habe ich mich ja über die solidarischen und genossenschaftlichen Lebensgewohnheiten der freien Fries*innen vom 12. bis zum 14. Jahrhundert ausgelassen.

Ian stammt auch von Leuten ab, bei denen Gleichberechtigung herrschte, wie er sagte, beispielsweise zwischen Männern und Frauen, von „the pict“ (deutsch Pikten).

Verbreitung piktischer Ortsnamen, die auf piktische Besiedlung deuten, im Norden der Insel Großbritannien.

picti, die Bemalten, nannten die Römer, die dort ab 80 nach Christus auftauchten, Ians Stamm, den ältesten im Norden des heutigen Großbritannien. Seine Sprache und Kultur verschwanden, nachdem der erste schottische König, der sich dabei auf die bei den Pikten übliche weibliche Erbfolge berief und dessen Mutter wohl zu den Pikten gehörte, im 9. Jahrhundert die Macht in der Region ergriff.

Das Bild, das ich nun finde, die handcolorierte Version eines Stiches aus dem 16. Jahrhundert, entspringt also der Spekulation. Es spricht tatsächlich für macht- und kraftvolle Frauenspersonen. Sie steht mit ihrem langen Speer, den sie in der linken Hand und zwei Speeren, die sie horizontal in der Rechten hält; trägt nichts als einen großen Ring um ihre Taille, von dem ein gebogenes Schwert hinter ihr herabhängt, und einen Halsring. Ihre Körperoberfläche scheint fast durchweg bemalt oder tätowiert zu sein. 

Dieses „wahre Bild einer Pikten-Frau“ wurde 1588 publiziert, von Theodor de Bry.

Die pictures unserer sinnenfrohen Ausflüge konnte ich Ian nicht transferieren – technologische Barrieren, aber den Koffer auf sein Leihfahrrad. Das wurde bei meinem Koffer, dem karierten, schon schwieriger. Vorm ehemaligen Palais der Statthalter kippte er vom Sattel. Ließ die geballte und unkundige Hilsbereitschaft – ein wenig amüsieren sich die Leute manchmal auch über my old school bagage – über mich ergehen. Wer kann denn heute noch Ladung verstauen und festzurren, uns wird ja fast alles industriell vorgefertigt abgenommen … Hab mir einen ruhigen Platz gesucht, das Rad an einen soliden Pfosten gelehnt, die meisten neuen Fahrradständer halten ja fast nichts aus, und nochmal umgepackt. Umpacken ist mir wichtig, auch in geistiger Hinsicht. Der Trick war, die harten schweren Dinge, die Nahrungsmittel (niederländisch foedsel), mit denen ich dann später Fokjes Haushalt bereichern durfte, in „dien fietsetasch“, wie sie zu sagen pflegte, zu packen, und anzuhängen, hinten, und die weichen leichten Stücke vorne.

Zum vorherigen Reisetag, in Folge 13, hatten wir ja auch die feudalen Elemente von Leeuwarden. Hier also nochmal zum Abschied der ehemalige Herrschaftssitz, wo heute wohlsituierte Touristen mit entsprechenden Fahrzeugen vorfahren; vor dem mir bei der Abreise der karierte Koffer vom Gepäckträger kippte; in den Niederlanden archiviert als rijksmonument 24219: Stadhouderlijk Hof in Leeuwarden, Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed

Kriegte alles aufs Rad und nach Gytsjerk. Bin nach Zahlen radelnd, denn die Knotenpunkte der niederländischen Überland-Fietsepad sind ja durchnummeriert, nach Norden gefahren, über Snakkerburen, Lekkum, Miedum, übers platte Polderland, und dann rechts nach Gytsjerk abgebogen. Es gibt dort fünf benachbarte Kirchspiele namens -jerk und ich freute mich einmal mehr über meine Karten auf Papier, auch wenn sie manchmal im Winde flattern oder im Regen matschig werden. Wege finden – nicht unbedingt nur vorher festgelegte Ziele oder Routen – ist ein feines Hobby, besonders wenn es um wenig befahrene, abgelegene, versteckte, neue Pfade geht.

Gulfhaus, auch Ostfriesenhaus genannt, wenn ich das richtig sehe, in Westfriesland, in Gytsjerk. Diese Art des Fachwerkbaus, bei der gebäudehohe Ständer die tragende Konstruktion bilden, war eine Innovation des 16. und 17. Jahrhunderts. Unten: Skizze von Brostoler

In Gytsjerk traf ich Aukje – die Aukje vom Bio-Stand auf dem Wochenmarkt in Leeuwarden, nicht die Hobbybäckerin von Earnewald – sie hatte mir das Zimmer bei Fokje organisiert. Ich war sehr dankbar! Und mir schwirrte der Kopf von friesischen Frauennamen, die ich mir nicht gut merken kann, die ich aber alle so schön finde. Auch die Frauen dazu haben mir enorm imponiert.

Traditionelle Sprachsituation in den nördlichen Niederlanden (Provinzen Friesland, Groningen, Drenthe und angrenzende Gebiete), T. Bosse, nach Vorlage Woadan

bûter, brea en griene tsiis, wa dat net sizze kin is sjin oprjuchte fries. So schreibt es mir Aukje in mein schwarzes Notizbuch, das immer schon beim Frühstück neben meiner Tasse liegt. Das ist Friesisch. Und wir drei, zwei waschechte Friesinnen und eine Außerfriesische sitzen mitten drin im oben blau gekennzeichneten Verbreitungsgebiet friesischer Dialekte. Der Spruch oben handelt vom Essen, genauer von Butter, Brot und friesischem Käse, und wie sie von aufrechten, echten Fries*innen benannt werden.

De kaasfabriek im niederländischen Woerden macht den grünen friesischen Käse (griene tsiis) aus der Milch von rotbunten friesischen Rindern. Seinen charakteristischen Geschmack bekommt er durchs Zusetzen von Kümmel und Petersilie.

Aukje, Fokje und ich haben zu dritt in Fokjes Garten gespiesen, genau das, was wir drei gerade so da und dabei hatten, stärkend, lekker (das niederländische lekker geht weiter als das unsre, steht für fast alles, was eine als gut und schön wahrnimmt), regional, saisonal.

In diesem Sinne machten Fokje und ich uns auf Aukjes Tipp hin auf zum plukbos/foedselbos (direkt übersetzt: Pflück-/Nahrungswald). Der befindet sich südöstlich von Gytsjerk, in Hurdegaryp, dieser friesische Name deutet auf hartes Land auf einem schmalen Landstreifen, der Untergrund dort besteht aus Sandboden. Fanden dieses Stück gemeinschaftlich gepflanzte und genutzte „harte“ Land zwischen der Bahnstrecke Leeuwarden – Groningen und Fernstraße (N355) und waren dort nicht die einzigen Wesen, aber die einzigen Menschen.

Gab ordentlich was zu pflücken für uns im plukbos/foedselbos (direkt übersetzt: Pflück-/Nahrungswald). Aronia melanocarpa war reif. Sie stammen aus dem nördlichen Nordamerika und nachdem ein russischer Züchter sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführt hatte, zählten Apfelbeeren in Russland und Polen zu den Heilpflanzen. Sie gehen dort überhaupt ganz anders mit Beeren um. Ein russisches Mütterchen, eine alte Weise, die an der Haltestelle der Transsibirischen Eisenbahn Beeren aus der Taiga verkaufte, erzählte, mit einem Eimerchen der richtigen, getrockneten Beerchen überstände sie jedes Winterchen:). Diese Beeren sind besonders reich an Flavonoiden, Folsäure und Vitaminen und reduzieren oxidativen Stress. Dafür brauchen Pflanzenkennerinnen nicht unbedingt wissenschaftliche Nachweise.

Neben den vollreifen Aroniabeeren fanden wir massenhaft am Strauch vertrocknete Schwarze Johannisbeeren. Deren geschmackliche und heilende Wirkung, oder auch die Lage dieser Allmende bei Hurdegaryp, haben sich wohl noch nicht richtig rumgesprochen.

Ribes nigrum, die Schwarze Johannisbeere, gehört nicht wie die Apfel-/Aroniabeere zu den Rosengewächsen, sondern zur Familie der Stachelbeergewächse. Sie enthält ungeheuer viel Vitamin C, das durchs Erhitzen nicht zerstört und nur unwesentlich vermindert wird.

Fokje und ich teilen viele Leidenschaften. Unter anderem liebt sie Pflanzen und Vögel.

Hier finden wir am bunt blühenden Wegesrand slangekruid, wie Fokje es benennt, Natternkopf (Echium Bulgare). Die Pflanze gehört zu den Rauhblattgewächsen und ihre rauhen Blätter haben die Form einer Zunge. Unten: Auch die Wilde Möhre (Daucus carota Unterart carota), ein Elternteil der Gemüsepflanze Karotte (Duacus carota Unterart sativa) blüht hier. In der Mitte der weißen Dolde aus Zwitterblüten befindet sich eine schwarzpupurn gefärbte sterile, sogenannte Möhrenblüte. Dieser farbliche Kontrast zieht potentielle Bestäuber, Käfer, Fliegen und andere Insekten an.

Unterwegs, beide sind wir überzeugte Radlerinnen, fiel uns noch eine Schmorgurke zu, die habe ich auf altdeutsche Art bereitet.

Beide lieben wir Bücher, gute, nachhaltige Küche und das Teilen – und mittlerweile bin ich ja auch ausgekochter Fan von ihrer schönen Heimat Fryslân.

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