3. August 2024
fachsimple Samstag, 3. – 14:29 – Grou/Grouw –
vorher lasse ich mich treiben, am Wasser entlang zum Bahnhof, und bewundere die Oldtimer an der Willemskade. Sie tragen seltsame Namen, die schweren, breiten Boote im Leeuwardener Museumshafen:

Dort liegt auch der Niederlande ältestes Hausboot, VROUWE JACOB anno 1881.
Auf dem Bahnsteig gibt es keinerlei Hinweise darauf, ob, wann, wohin die Züge fahren werden. Das ist wie in Sibirien. Du wartest voller Zuversicht recht weit von den Gleisen entfernt, brachte mir in der Steppe mein junger Gesprächspartner und Reiseabschnittsbegleiter bei, der bis zur letzten Sekunde vor meiner Abreise mit mir reden wollte, und mich herzlich zum Sitzenbleiben im Wartesaal zwang, in Petropawlowsk/Kasachstan, wo meine Großmutter vor 110 Jahren gelebt hat.

Am Bahnhof Leeuwarden habe ich mindestens fünf Leute gefragt, ob der Zug nach Grou (friesisch, gesprochen wie die Farbe grau) fahre, manchmal habe ich zur Sicherheit noch die niederländische Variante für den Ortsnamen hinzugefaucht: Grouw, gesprochen Chchrroou. Meine Mitreisende, sagte, zu 99% führe die Bahn in der wir saßen, nach „grau“. Zwecks Plauderei setzt sie sich zu mir, erzählt, dass sie Krankenschwester ist und auf dem Weg zur SKS-Party. In Grou wird sie von ihrer noch hochgewachseneren Freundin abgeholt. Die trägt weiße Spitze und sagt: „Only here for the party!“. Und stopft uns in ihren orangebraunen Fiat. Der unter unserer Last und der von ihrem halben Hausstand fast Bodenberührung kriegt. Sie weisen mir den Weg zur Regatta und fahren zum Schminken.

Die Familie, neben der ich mit baumelnden Beinen auf dem Steg saß, lebt wie ich aus der wiederholten Erwähnung des niederländischen Namens vom Pais Kòrsou entnehme, auf den Inseln unter dem Winde, immer noch südamerikanischer Teil des Königreichs der Niederlande. Die Mutter scheint sich Sorgen zu machen, dass es ihren Söhnen hier besser gefällt, als in Curaçao, aber das ist nur eine Vermutung. Meine Nachbarin zur Linken erzählt mir, dass sie genau hier an einer „angel“ schwimmen gelernt hat. Ich versuche, die Schiffchen zu sehen, sie fliegen scheinbar vorbei.
Später im „hart van de Friese watersport“ (Herzen des friesischen Wassersports), dem Zeil(Segel)centrum des Städtchens Grou, das über einen Hafen voller hochstapelnder Motoryachten verfügt und lange Tanker, die auf dem Prinses-Margriet-Kanal passieren; auf dem ich vor 20 Jahren mal half, eine kleine Segelyacht vom IJsselmeer nach Groningen und weiter zu befördern; der nach Prinzessin Margriet Francisca benannt ist, die 1943 in Kanada geboren wurde, wo sich die königliche Familie nach der Besetzung der Niederlande durch deutsche Streitkräfte aufhielt, schreibe ich: „Arbeite mich jetzt mal ein. Also Karin, die Große im weißen Spitzen-Outfit mit dem ockerfarbenen Fiat, ist nur für die Party hier.“ Die Party heißt SKS-Party, denn auch für diesen friesischen Wettstreit gibt es ein Kommittee, die Sintrale Kommisje skûtsje silen.
Die skûtsje-wike (Woche) hat hier schon am Vrijdag 26 juli mit Beach-Volleyball begonnen. Es gibt nämlich Sandstrände an Fryslans nördlichen Binnengewässern, an denen die Regatta der tjalkartigen Schiffe ausgetragen wird, die dort früher mal Frachten unter Segeln transportierten. Die friesische Bezeichnung tjalk tauchte 1673 erstmals in einem Dokument auf. Solche Frachtschiffe wurden an der Küste und als Binnen-Frachtschiffe für den Gütertransport unter Segeln eingesetzt, bis ins 20. Jahrhundert.

Tjalk, Anfang des 20. Jahrhunders, A. Dekema
Vorm offiziellen Start des SKS, so das gängige Kürzel drumherum, am 3. August hatten sie in Grou bereits Splashtival, Food festival, Fietsen + wandelen (Radeln und Laufen), Terrassenavond met live muziek (einen musikalischen Terrassen-Abend), Sloepentocht vol culturelle verrassingen. Sloep, kommt vom Verb für gleiten, schlüpfen, slippen und ist der flämische Ausdruck für ein niederländisches Schiff. Er ging als chaloupe ins Französische ein, als Bezeichnung für einen Einmaster, wie er früher als Beiboot verwendet wurde, und als Schaluppe ins Deutsche. Der oben genannte Umzug der Schaluppen war voll der kulturellen Überraschungen, die mir entgingen. Bleibe sitzen, höre und sehe zu. Setze meine Beobachtungen aus dem Herzen der friesischen Wasser-Wettbewerbe fort: „jetzt segelt ein Schutchen (skûtsje ist eine Verkleinerungsform) mit einem weißen Schwan im dunklen Segel vorbei, das ist die Crew aus Langweer.“ Dieses ehemals verschlafene friesische Dorf, dem sein Gewässer, das Langweerer Wiel zur Armada der Sportschiffer*innen verholfen hat, trägt den Schwan im Wappen. Weiter im Text: „Die skutsje fahren gerade eine Wende, soviel ist mir klar:).“
„Grou is winning“, lautete die letzte Meldung vom Nachbartisch im Headquarter PRIKA MAR. Dort stand ich auf dem Stuhl, das ist bei dieser Gelegenheit erlaubt und erwünscht. Und zeichnete das Gewinner-Schutchen:

Dem Kommentator am Lautsprecher vor Ort kann ich nicht folgen, die schönen Segel kann ich von meinem klebrigen Tisch hinter der Menschenmenge am schilfbestandenen Ufer erblicken.

Um 13:00 haben sich die 14 skûtsje beim früheren Halbertsma Terrain versammelt – die Holzfirma Halbertsma war ein Begriff in Friesland, es wurden dort u.a. Gemüsekisten hergestellt. Um 14:00, als ich noch auf dem Bahnhof in Leeuwarden saß, ertönte der Startschuss für die 2024er Skutsje-Saison, „De 1e start van de wedstrijddreeks im het SKS-kampioenskap“, deren erste Regatta (wedstrijd) ausgetragen wurde auf „de Pikmar, Wide Ie en het Suderburds Wiid“, alles vielverzweigte Gewässer. Sie entstanden im Zuge der Moorkolonialisation. Die Kunst, dauernd vernässte Feuchtgebiete, die Torfböden bilden, für Siedlungen und Landwirtschaft zu erschließen – durch Kanalbau und Torfstechen in Handarbeit – wurde in den Niederlanden entwickelt. Aus einem oder mehreren ins Moor getriebenen schiffbaren Kanälen – der Hauptkanal diente dem Abtransport des Torfes mit getreidelten Schiffen – an denen sich Siedlungsgäuser wie an einer Perlschnur aufreihten, gleichmäßig, aber nicht eintönig, entstanden Dörfer. Und es entstanden die vielen Binnengewässer, auf denen heute fast ausschließlich Wassersport stattfindet.

Nicht nur in den Niederlanden wurde nach niederländischem Vorbild Torf getreidelt. Das Foto von Arnold Plesse zeigt das Denkmal für die Torftreidler in Papenburg, nahe der deutsch-niederländischen Grenze.
In der Damentoilette sieht´s aus wie in einer Theatergarderobe : here for the party!
Sitze perfekt, dort wo der Kanal in den See Pikmar mündet. Die Regattastrecke führt von hier südostwärts in de Wide Ie (gesprochen Äi) gen Nordosten, gen Sitebuorster Ie/Suderburds Wiid, wie ich auf meiner Karte entziffere
Gegen sieben Uhr abends bei lauter werdender Wummermucke heute betrinken sich nun laut Chris ´ Bruder Andre, den ich auch bei dieser friesischen Sportveranstaltung „zufällig“ im Gewühl treffe, jetzt alle Zuge systematisch. Und das PRIKA MAR, in dem ich nun schon seit Stunden sitze, hat auf seinem Schwimmponton auch leichte Schlagseite.
Jetzt läuft hier die Skûtsje kommisje Grou ein, und ich mache mich auf den langen Fußmarsch von den Wasserstraßen durch die Partymeile zum Schienenstrang.