Donnerstag, 1. August 2024
stutze am Donnerstag, den 1. – 17:11 – Wilhelminaplein/Leeuwarden –
aber da muss so eine Bummlerin erstmal hinkommen. Zunächst bleibe ich am späten Vormittag am Rande eines Trottoirs für Fußgänger*innen und Radler*innen namens Nauw am Wasser, am Nordrand der Neustadt (Nieuwestad), und blicke auf einen kleinen Marktplatz, den Groente-markt. Am Laden gegenüber steht unieke handgemaakte sieraden, das soll wohl auf Unikate, handgemachten Zierat, hindeuten und könnte an die zahllosen reisenden Hippies erinnern, die überall rund ums Mittelmeer, aber auch an anderen Meeren, Schmuck verkauften. Tut es aber nicht. Es ist Plastik. „Wer weiß, was wir noch kaufen?“ sagt eine vorbeitreibende Shopperin zu ihrer Tochter. Ich weiß vor allem, was ich nicht kaufe: Plastik. Aber ein wenig internationalistisches street food. Mache mich dann auf in Richtung Wilhelminaplein, Leeuwardens Marktplatz, durch eine Straße namens Ruiterskwartier. Dort packen gerade zwei ihre Instrumente aus. Diesmal setze ich mich direkt aufs Trottoir und freue mich auf ein kleines Open-Air-Konzert nur für mich. Und ich bin wirklich die einzige, die zuhört, alle anderen sind vollständig dem Shoppen verfallen. Nein, nicht ganz, ein ganz kleiner Junge lässt sich nicht vorbeizerren. Listen to the music! scheint auch sein Motto zu sein.

Im Fries Museum (Alles over Friesland, kunst, cultuur, friesmuseum.nl) lerne ich zunächst, dass Friesland vor 2500 Jahren zum größten Teil aus Watt bestand, der Rest waren Kleiboden – besonders fruchtbar waren, weil er immer wieder überschwemmt wurde -, und fischreiche Wässer. Beim Überleben in diesem Wasserland half De Terp, Warft, Wohnhügel. Auf Leeuwardens drei Hügeln, dem Hoek, dem Olde- und dem Nijehove standen zunächst nur wenige Häuser, aber Ausgrabungen verweisen auf die günstige Lage an der Middelsee (see bedeutet Meer, es handelte sich hier also quasi ums friesische Mittelmeer), frau und man ließ es sich gut gehen mit in irdenen Töpfen gekochten Muscheln.

Bis etwa 1000 vor Christus lag Leeuwardens Standort direkt am Meer, dann versandete die Middelsee.
Eine Landgewinnungsrunde später wurde eingepoldert. Damit änderte sich das Wirtschaftsleben nachhaltig.
Nach einem optischen Ausflug zum heutigen Wirtschaftsleben in den kleinen friesischen Städten – nach Leeuwaarden wurden erfolgreich große Unternehmen gelockt, daher erheben sich jetzt Skyscraper aus den Poldern und die Radfahrer*innen und Segler*innen haben neue Landmarken – wende ich mich der Abteilung „Sagen und Gerüchte“, wie ich sie nennen möchte, zu.

Dort wird offenbart, dass nicht alles friesisch ist, was so aussieht. Das mit dem Keatsen hatten wir ja schon (siehe Der karierte Koffer fährt nach Fryslan, Folge 7), das waren die Holländer. Und um das mal kurz klarzustellen, keiner nennt sich hier Holländer, der Name kam etwa 866 auf für die Holz-/Waldländer bei Haarlem. Die Karte unten zeigt die historische Grafschaft Holland und auch Friesland.

Und die Friesen sind ein eigenes Völkchen. Ihre Babybekleidung machten sie aus indischem Chintz, weil es praktisch und haltbar ist.

Und auf keinen Fall hält so ein echter Friese für alles her. Der junge Mann auf dem Bild, ein Landwirtschaftsschüler, soll sich – leider vergebens – dagegen gewehrt haben, dass die deutschen und niederländischen Nazis sein Porträt als einzig wahren Arier verkauften.

Ich stoße auf eine besonders berühmte Leeuwarderin: Margaretha Zelle. Der Künstlername dieser Friesin war Mata Hari und sie hatte ein nicht nur glamouröses Leben. Bevor sie auf allen Bühnen Europas mit ihren selbst entwickelten Tänzen auftrat und hernach als Spionin 1917 hingerichtet wurde, erlebte sie „Gefängnis und Hölle“ der Ehe, wie eine Wissenschaftlerin diagnostiziert für jene Zeiten – und bis in die 1970er hinein, das kann ich aus eigenem Erleben für meine Mutter bestätigen.

Im Jahr 1903 schrieb Zelle: „Ich habe es satt, gegen das Leben anzukämpfen, und will eines von zwei Dingen; entweder Nonnie (ihre Tochter, die ihr der Ehemann vorenthielt) bei mir und eine anständige Mutter sein, oder ich werde leben, wie es mir hier so großartig angeboten wird. Ich weiß, dass dieses Leben mit einem Unfall enden wird – aber darüber bin ich hinweg. Ihr Mann war Offizier in Niederländisch-Indien, wie damals der unter niederländischer Herrschaft stehende Vorläufer der Republik Indonesien genannt wurde. Ihr Sohn Norman stirbt dort 1899, ihre Tochter Jeanne Louise, genannt Nonnie, behält der Vater bei sich, als sie sich von ihm trennt. Er verweigert auch den Unterhalt. So stand Zelle mit 26 Jahren ohne ihre Kinder und mittellos auf der Straße und begann 1904 in Paris als Modell und Tänzerin. Ihre Familie hat sie nie wieder gesehen. Ihr Künstlerinnenname entstammt dem Malayischen und bedeutet Auge des Tages, für ihre „unvergleichlichen, geheimnisvollen, innovativen, gewagten“, wie es in den Medien hieß, Tempeltänze hat sie sich auf Java inspirieren lassen. 1907 war sie Millionären, dann ruinierte der Erste Weltkrieg ihr die Geschäfte und Mata Hari soll ab 1921 als Spionin für Deutschland gearbeitet haben.

Und dann fesseln mich ganz besondere Motoren. Kunsthandwerker*innen aus verschiedenen Welten haben, um den Druck auf ihr Gewerbe zu demonstrieren, einen Mähdreschermotor hergestellt. Projektleiter war Éric Van Hove. Er wurde als Sohn eines belgischen Ingenieurs 1975 in Algerien geboren und koordinierte die rein handwerkliche Herstellung eines originalgetreuen Claas Jaguar Mähdreschers, wie er auf dem friesischen Flachland häufig eingesetzt wird, aus marokkanischem Leder, schwedischem Glas, indonesischer Schnitzerei und Hindelooper Keramik.

Das Wunderwerk, erstellt im Auftrag des Fries Museum, feiert die Ineffektivität.

Sitze vorm Museum. Die beiden Jungs werfen sich gegenseitig kunstvoll aufs Pflaster. Und fragen mich dann in noch leicht gebrochenem Englisch ganz ehrfurchtsvoll, ob ich eine Strickerin sei. Komme zwar gerade von einem ganz großen Kunsthandwerk, begreife aber erstmal nicht, was sie meinen. Dann sehe ich es, es ist dieser von meiner Mutter „in schlechten Zeiten“ angefertigte Beutel, der neben mir liegt, den ich immer mit mir trage. Sie gibt doch Hoffnung, diese kindliche aandacht, oder?