Der karierte Koffer

Der karierte Koffer fährt nach Fryslân, Teil 7

31. August 2024

werfe Mittwoch, den 31. – 18:15 – Sjûkelân/Franeker –

aber erstmal lasse ich diesen Werktag, der ein enormer Feiertag wird, ahnungslos angehen. Vorm ´t Anker sitzt eine unter Linden, Chris, der Hotelchef, pustet deren Blüten weg und ich nehme im dortigen JETZT am Leben teil, der Eewal ist mir ans Herz gewachsen, eine geschäftige Straße ohne großes Getöse, wo die Leute einander kennen, grüßen und aandacht (Aufmerksamkeit) schenken. Und trotz Geschäftigkeit immer Zeit für einen Schnack haben.

Bekomme Hinweise und Anweisungen mit dem Beipackzettel: „Wir sind ein Familienhotel und wir wissen, was hier in der Gegend los ist. Das ist nicht so wie in den großen Hotels, wo Leute an der Rezeption sitzen, die keine Ahnung haben!“. 

Ein anderes Familienmitglied, der morgendliche Keeper von Tresen und Hotel  ´t Anker hat mir auf dem „Plattegrond Leeuwarden“ den Weg zur treinstation eingezeichnet. Sie liegt südlich der drei terpen (Wohnhügel, Warften), aus denen Leeuwarden bestand, als es noch am Wattenmeer lag. An einem Meeresarm namens Middelsee (niederländisch Middelzee):

Laufe also westwärts am Statthalter vorbei über Gouverneurs-, Hof- und Raadhuisplein, biege nach Süden in eine der vielen Fußgängerstraßen und gerate ans ehemalige Meeresufer, wo erst nach der Eindeichung die Nieuwestad entstand, wo seit 1590 De Waag steht, wo vor allem die Butter aus der Milch der berühmten friesischen Kühe gewogen wurde, die nun auf dem neu gewonnenen fetten Grünland riesige Weideflächen hatten. An Kraftfutter brauchte damals natürlich noch niemand zu denken, ebensowenig wie ans Färben der Butter mit Beta-Karotin. Denn wenn Rinder Grünfutter fressen und wiederkäuen reichern sich im Fett ihrer Milch auf natürliche Weise Carotinoide an. Sie sind im Gras enthalten, allerdings wird ihre gelb-rote Farbe vom Grün des Chlorophylls überdeckt (zumindest, solange das Gras nicht welkt). Früher haben sie auch nachgeholfen, zum Beispiel mit Ringelblume, aber nur um die Verfärbung beim Ranzigwerden zu übertünchen. Ansonsten war diese Butter viel gehaltvoller – enthielt mehr Omega-3-Fettsäuren und Vitamine – als das heutige Industrieprodukt, das zudem eine eher brutale Tierhaltung und massive Umweltzerstörung bedeutet, denn der Anbau von Kraftfutter fördert nicht gerade die Bildung von Muttererde o.a.. 

Die berühmte friesische Kuh ist in mein neues Geschirrtuch gewebt; hat eine Statue in Leeuwarden, unter der „Us mem“ steht, unsere Mutter; ist anthropozentrisch betrachtet ein milchbetontes Zweinutzungsrind; gehört zu den bedrohten Nutztierrassen und wird offiziell schwarzbuntes Niederungsrind genannt.

Zurück zur Butter: kurz nachdem ich dies hier oben notiert hatte, erfuhr ich noch eine Import-Export-Story. Und zwar sollen die Friesen beim Butterexport nach London in die 50 Kilo-Fässer Steine gelegt haben, woraufhin sich die Engländer für die Einfuhr dänischer Butter entschieden. Das kann ich jetzt nicht nachrecherchieren, denn sonst kommen wir ja gar nicht voran.

Denn wir müssen nochmal zurück zur Mutter der Fries*innen. Offiziell heißt sie schwarzbuntes Niederungsrind und stammt von den friesischen Küsten, wo frau und man über die Jahrhunderte jenseits jeder Gentechnik Milchvieh züchteten. Zunächst war es einfarbig rot oder rotbunt. Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich auf den Marschweiden in Friesland (an der niederländischen und deutschen Nordseeküste), aber auch im damaligen Ostpreußen, woher meine Eltern stammen, das Schwarz-Weiß durchgesetzt. Die schwarzbunten milchbetonten Zweinutzungsrinder, wie sie in der Fachsprache genannt werden, gaben für damalige Verhältnisse viel Milch, die sich zudem durch einen besonders hohen Fettgehalt auszeichnete.

 Mittlerweile hat sich viel globalisiert und kapitalisiert. Fokjes Bruder Jaboek hat mich gerade darauf aufmerksam gemacht, dass wir jetzt im August weltweit soviel Ressourcen verbraucht haben, wie ohne geplanten Weltuntergang fürs gesamte Jahr 2024 zur Verfügung stehen. Wie soll das weitergehen? Anders. Fangen wir mal bei der Milchmenge an. Die folgende Angabe stammt von wakkerdier.nl: 4000 Liter pro Jahr für 1950 und 8000 Liter für die heutige Zeit. 

Diese Verdopplung verdanken Erzeuger und Verbraucher den Betreibern der Supermärkte, die mit ihrer nahezu Monopolstellung die Einkaufspreise drücken können. Das wiederum zwingt die Bauern zu einer erhöhten Milchproduktion, die sie aus wirtschaftlichen Gründen nicht durch Investitionen in Ställe und Personal, sondern nur durch die Anschaffung von Kühen, die genetisch auf hohe Milchproduktion selektiert sind, liefern können. Die Tiere wiederum benötigen dafür unbedingt Kraftfutter, Soja, Mais o.a., sogar Palmfett wird mancherorts verfüttert. Diese hochproduktiven Milchkühe haben eine kurze Lebensdauer, sie sind nach sechs Jahren ausgelaugt. Die Kritiker von wakkerdier sprechen von sloopmelk und fordern einen Stopp. Nur wie? Einzelne landwirtschaftliche Betriebe können schlecht das Ruder rumreißen, das erfordert einen globalen und lokalen Wandel im gesamten Wirtschaftssystem. Davor fürchten sich viele. Und manche haben eher Angst vorm Weitermachen wie bisher.

Bei der öffentlichen Waage in Leeuwardens Neustadt gilt es, eine Gracht zu überqueren und dann durch schmale Stiege und Sträßchen – der Hauptverkehr passierte, als sie dieses Städtchen auf seinen drei Hügeln erweiterten, ja auf den Wasserwegen – zur nächsten zu gelangen. Am besten in der Nähe einer Brücke. Der Hauptbahnhof hat ganz unterschiedliche Facetten, je nach Ortszeit.

An diesem Mittwochnachmittag hilft dort ein freundlicher Polizist der alten Dame aus Deutschland beim Erwerb der Fahrkarte nach Franeker (friesisch Frentsjer). Da soll sie nämlich laut Anweisung des Hotelchefs an diesem Mittwoch hinfahren. Es ist eine der ELFSTEDEN, die ihre weltweite Berühmtheit dem Eislaufrennen von 200 Kilometern verdanken, der Elfstedentocht; war die erste Hauptstadt von Fryslan und 200 Jahre lang – von 1585 bis 1811 – die zweitwichtigste Uni der Niederlande. Hier hat Descartes studiert und war Gast im ältesten Studentencafé der Niederlande, De Bogt fan Guné.  Mir hat ein Student aus Curaçao den Weg gewiesen, mich, sein Rad schiebend, zum Stadion begleitet. Was für ein beschwingter Plausch! Shurandly studiert business administration, muss viel jobben und fährt mit dem Rad vom Bahnhof zu dem kleinen Dorf, wo er mit seiner Familie wohnt. Die meisten Zuschauer beim mir bevorstehenden Turnier, dem wichtigsten Feiertag Frieslands, kämen aus den Dörfern, erfuhr ich, und dass sein Name aus der Sprache Papiamento stammt. Das ist eine hochentwickelte Kreolsprache mit spanischen, portugiesischen, niederländischen und englischen Elementen. Sie wird unter anderem auf der seit 4000 vor Christus besiedelten karibischen Insel Curaçao gesprochen, die zum Königreich der Niederlande gehört, aber autonom ist und eine eigene Regierung hat. 

Shurandly bringt mich zum Stadion und dort gelingt mir etwas, mit dem der sehr wohlorganisierte Hotelchef Chris, dem fast nichts entgeht, nicht gerechnet hat: Ich bekomme ein Ticket. Und zwar für das Endspiel in einer Sportart, die ich immer noch nicht aussprechen kann, und zwar last minute für 12,50 €. Es ist ein Stehplatz, stellt sich heraus, als ich mich setzen will. Da stand ich nun in der hintersten Reihe und sah und verstand gar nichts. Bekam aber erste Erläuterungen von den Umstehenden.

Es handelt sich beim Keatsen/Kaatsen um ein Ballspiel, bei dem der Ball oft nicht zu sehen ist, auch nicht für die Spieler, denn er ist gerade mal so klein wie eine große Pflaume. Ich weiß überhaupt nicht, wie sie ihn fangen, manchmal entfleucht er über die hohen Bäume. Die Regeln versucht mir ein junger Stehnachbar geduldig zu vermitteln. Ist ungefähr wie Tennis zu sechst ohne Schläger auf einer ausgedehnten friesischen Marschwiese. Zwischen dem vorletzten und dem letzten Match von zwei Dreier-Teams strömen alle auf den Rasen. Ich darf dort einen echten Keats-Ball werfen und dabei erwischen mich doch glatt Chris und sein Bruder! 

Hinterher ist eine immer schlauer: das Spielfeld heißt Sjûkelân und dort ist fast alles erlaubt außer rauchen.

Das Turnier heißt PC, nach der 1853 erstmals zusammengetretenen KONINKLIJKE PERMANENTE COMMISSIE, die es seither ausrichtet; die Tanzveranstaltung KAATSPARTIJ 2024 und sie wünschen sich im Vorwege een prettige kaatsdag. Und was ich später im FRIESMUSEUM erfahre, ist, dass das friesische Handballspiel um 1500 von holländischen Deichbauern eingeführt wurde, heute aber nur noch in Fryslân gespielt wird. Und heute, zehn Tage nach dem Fest in Franeker, erfahre ich von Fokjes Bruder Jaboek, dass auch für Menschen mit langjähriger Erfahrung 2024 eines der schönsten Jahre fürs PC war.

Die PC, die 1853 erstmals zusammengetretene Koninklijke permanente Commissie, richtet seither das nach ihr benannte Keatsen-Turnier aus.

Hatte prettige PC. Nach der Pause darf ich in die vorderste Reihe aufrücken und dann singen Jan aus Utrecht und seine Familie, Tochter und Freund (dem sie auf der Fahrt eine Stunde lang die Regeln und das Verfahren des Turniers erklärt hatte) neben mir und die übrigen Zehntausend stehend, begleitet von einer Blaskapelle das Frysk Folksliet, das Lied des friesischen Volkes. War total ergriffen und kam mir ziemlich außerfriesisch – wenn auch wohlgelitten und willkommen – vor zwischen all den eher schmalen und hochgewachsenen Menschen mit oftmals blonden oder rötlichen Locken. 

Fraß den haring (deutsch Matjes) aus der Hand wie vor 60 oder mehr Jahren am Strand von Zandvoort. War hin und weg – hab mich total wohl gefühlt. Das sah man und frau mir wohl an. „Du büst so mooi“, sagte eine Altersgenossin zu mir im Tanzzelt, wo ich zu Amazing Grace auf Friesisch mir die Seele aus dem Leib und wieder hinein rockte. Ein knalliges Kompliment, mooi ist das schönste Wort für schön, das ich kenne. Danke! So heißt es auch auf Nordfriesisch. Und die jungen Männer strahlten mich an und riefen etwas wie „Höi“, was, wie ich mittlerweile weiß, ein freundlicher Gruß ist. 

Und dann gingen wir alle zum 22-Uhr-Zug nach Leeuwarden, das unter Fries*innen Ljouwert heißt, und mir von der Aussprache näher liegt, ungefähr llauett. War zum Schreien komisch, wie wir im Silence-Wagon rumbrüllten. Hätte sie alle umarmen mögen, lauter mooie menneschen, die auch unter Einfluss von viel Bier nicht entgleisen. 

Der freundliche Kerl in „meinem“ Koffie-Shop, dem Repelstelzje, fragte mich am sehr späten Abend lächelnd, ob ich meine Schokolade mit oder ohne wiet wolle. Ohne! Bin angetörnt genug. 

Auf dem Rückweg gerate ich auf einer Nebenstrecke namens Weaze ins Rotlichtviertel, dass sich auch der Gay Pride hingibt.

„Sweet dreams are made of this“ ist wieder in den Playlists aufgetaucht, die früher Hitparade hießen. „Everybody is looking for something“, I am looking for traveling. 

Beitrag per Mail versenden