29. Juli 2024
schaukle Montag, den 29. – 21:52 – Grote Hoogstraat/Leeuwarden –
vorher genieße ich den lieben langen Tag meinen Stand-, Liege- und Sitzort. Bin richtig gut untergekommen im Hotel ´t Anker. Aus dem schmalen hohen Fenster meines schmalen Einzelzimmers im ersten Stock sehe ich die Linde, sie überragt die mehr als 300 Jahre alten Häuser fast ums Doppelte.

Angefangen hat es mit dem stamcafé von Jaap und Carla van de Lej am Eewal. Diese Straße in der heutigen Innenstadt entstand, als man die Dokkumer Ee, die zwischen den beiden Warften von Nijehove (ganz am Anfang bestand Leeuwarden aus nichts als drei von menschlicher Hand errichteten Wohnhügeln, die Hoek, Olde- und Nijehove genannt wurden) abdämmte und zuschüttete.

Am Eewal 69 befand sich in den 1960ern das Café von Jappie und Carla, ein bruin kroeg, wie er „im Blogge steht“ (Der karierte Koffer fährt nach Fryslan, Teil 2). Dann wurde daraus ein „bardancing“, wie es auf Niederländisch hieß, und die Kneipe zog in die neu erworbene Nummer 73. Im Jahr 1967 kam noch das Haus Nummer 71 dazu und mit zahlreichen Durchbrüchen und Umbauten – alles ist hier noch immer prima verwinkelt und das Erklimmen der steilen Treppen ein prima Training – startete der Hotelbetrieb.

Der Eewal in Leeuwarden 1979, Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed
In den 1980ern kamen Sohn Chris, zunächst als Kellner, und das Haus Nummer 75 dazu. Wenn ich das heutige Hotel ermessen wolle, rät Chris, mich an den beiden Heinecken-Schildern links und rechts der vier schmalen Häuser zu orientieren. Wenn eine erstmal drin ist und durch mehrere Türen gelaufen, weiß sie eh nicht mehr, auf welchem Grundstück sie sich befindet. Aber sie helfen, immer! Auch mit Tipps für draußen: „Wir sind ein Familienhotel, wir wissen alles, was in der Nähe los ist. Die Großen haben Studenten an der Rezeption und die wissen von nichts.“

Beim Frühstück übersetzt mir Marianne aus dem Buch Fr11slân door de ogen van Vermeer die Lebensgeschichte von Holk de Groot (siehe Der karierte Koffer fährt nach Fryslan, Teil 2). Marianne stammt wie Jan Vermeer aus Delft, ist also Niederländerin, aber keine Friesin, deshalb sind manche Ausdrücke in diesem Buch auch ihr fremd; und hält die alte Dame auf dem Ölbild zunächst für einen Mann, bevor sie die eindrucksvolle Storie dieser Alt-Stavorenerin gelesen hat, die von sich sagt, sie sei „kein Mädchen-Mädchen“.
Und dann sitze ich den ganzen Tag im „braunen Krug“ von Chris und Co und futtere zwischendurch bitterballen (siehe Der karierte Koffer fährt nach Holland, Teil 1).

Abends erweitere ich dann wie eine streunende Katze den Radius um mein Quartier, ohne jeden Plan. Manche sagen Derivieren dazu – und das gilt als Forschungsmethode. Als ich auf dem weißen Schaukelstuhl in der Nebengasse des Eewal saß, inzwischen kann ich schreiben, dass es sich um die Groote Hogstraat handelt, hat mich Marcel, weil er Ungar ist, Marzel ausgesprochen, fotografiert. Einen Restauranttipp hatte er nicht, er sei keine soziale Person und würde nie auswärts essen, gesteht Marcel zögerlich. Mir hat er sich dann doch geöffnet, vielleicht lag´s am Schaukelstuhl, und mir von seinem anstehenden Umzug erzählt. Er müsse ihn am nächsten Tag mit Einkaufswagen bewältigen, allein. Brauche aber nur zwei Fuhren. Marcel studiert hier International Business – das scheint ungeheuer angesagt zu sein und ich mache mir als Alte Sorgen, wo das hinführen soll, denn wir können die Welt doch nicht mit Geschäftemachen retten, oder? Über Ungarn berichtet Marcel, dass die derzeitige Regierung es total runterwirtschaften würde, Menschen würden ewig auf Operationen warten, Hotels würden mangels Klimaanlage etc. geschlossen. Die Preise dort entsprächen denen in den Niederlanden, der Verdienst dort betrage nur einen Bruchteil dessen, was eine/r hier üblicherweise einnimmt. Marcel möchte hierbleiben, muss dafür aber die Sprache lernen, deren Sound er nicht mag.

Auf der Straße sitzen in Leeuwarden – gestern Sofa, heute Schaukelstuhl.
Ich hingegen stehe auf die sturmgepeitschte Aussprache von zum Beispiel Schiermonnikoog, die weder mit Sch noch mit k was zu tun hat, weil sowohl das ch, als auch das k gefaucht werden. Ist nur beim Fragen nach Bus, Fähre, Bahn manchmal ein bisschen schwierig.

In De Waag, der öffentlichen Stadtwaage, wurde ab 1595 Handelsware, vor allem Butter, gewogen, fast 300 Jahre lang.
Erforsche dann von allen Seiten das auffällige Gebäude an der Gracht zwischen Binnenstad und Nieuwstad, wo es sich so ganz anders anfühlt als an „meinem“ Eewal, den ich wie magnetisch angezogen ohne jede Ortskenntnis immer wieder finde. Mir entstehen gerade optische und akustische Erinnerungen, zum Beispiel, wenn das Glockenspiel am Rathaus die Plaudereien übertönt oder eine Fahrradklingel das Gelächter. Das Gebäude in der Neustadt ist De Waag, die öffentliche Stadtwaage, seit 1595 wurde hier vor allem Butter gewogen, fast 300 Jahre lang.
Lande im ´t Repelstilzche (Rumpelstilzchen), wo eine/r kein Headset und kein Käppie tragen, nicht fotografieren, aber kiffen und bar bezahlen darf. Es ist ein Koffie-Shop der ganzen alten Art. Sowas gab es in Amsterdam schon, als wir circa 1971 von Marokko zurück kamen:). Die drei Damen am Nebentisch rauchen fleißig und spielen ein analoges Quiz mit ganz schwierigen Fragen.

Koffie-Shop am Eewal, nur für Rumpelstilzchen