Der karierte Koffer

Der karierte Koffer fährt wieder nach Norden, Teil 1

schaukeln am Donnerstag, den 28. – 23:23 – Beltsee

nachdem der Regional-„Express“ mich trotz diverser Störungen in seit rund 200 Jahren eingeführter Technik nach Lübeck gebracht; ein Bus Marlene und mich zum Travemünder Skandinavienterminal befördert hatte und wir auf Deck 7 unter Truckern vieler Länder geruhsam und behaglich Teile unseres Proviantes verzehrt hatten – der Verzehr von Mitgebrachtem gleich neben der Bar stört auf dieser Fähre niemanden. Sie dient dem Transport von Waren – durch die Beltsee.

Die Beltsee und ihre Meerengen; Belt (bælt) heißt so eine Enge eigentlich nur beim „Dänen“, wie unsere Skipperin bei den Ostseetörns in der Einzahl alle dänischen Wetterberichterstatter nannte, in der Einzahl – sie behauptete steif und seefest, „der Däne“ habe immer recht. Bis auf den Großen und den Kleinen (Lillebælt & Storebælt) heißen die Belte nach der Insel, die sie vom Festland oder der Nachbarinsel trennen. Das für Meerengen vor allem jenseits von Dänemark gebräuchliche Wort Sund kommt vielleicht vom altnordischen Tätigkeitswort sundr für trennen. Damit die in der Natur der Ostsee liegenden Belte und Sunde überhaupt sichtbar werden zwischen dem Menschengemachten, sind auf dieser Karte die Brücken – bis auf die längsten – und anderen Bauwerke, wie Tunnel und Dämme, nicht eingezeichnet. Die Beltsee an sich verbindet Ost- und Nordsee, und gewässerkundlich besehen ist sie ein Grenzgebiet: hier trifft das Salzwasser des Kattegatts aufs Brackwasser der oben erwähnten Meerengen und Meeresstraßen.

Als Mädchen für Verschiedenes musste ich bei Segelreisen vor der Digitalisierung auch mal Wettervorhersagen belauschen. „Der Däne hat immer recht“, behauptete zwar unsere Skipperin steif und fest, aber ich hörte vorsichtshalber auch „den Deutschen“ und „den Schweden“ ab – und notierte insbesondere die Ansagen für Belte und Sund – Lillebælt, Storebælt, Øresund (dänisch)/Öresund (schwedisch), wenn wir zwischen Holstein und Schonen auf kleiner Fahrt waren.

Diesmal müssen wir nur lange durch lange Gänge zu unserer Unterwasser-Innenkabine navigieren und werden dann ohne weitere Mitwirkung unsererseits gen Schonen geschaukelt. Die verbindenden beziehungsweise trennenden Meeresstraßen, Langelands-, Alsen- und Fehmarnbelt, sowie die Sunde, lassen wir auf unserem Nordost-Kurs an Holstein, Lolland, Falster und Seeland entlang, von der Beltsee gewiegt, im Schlaf links liegen.

schlottern am Freitag, den 29. – 10:30 Ribersborg/Malmö –

dreieinhalb Stunden zuvor werden wir in originellem Deutsch aufgefordert, uns auf den Landgang vorzubereiten. Auch weist dieser Schwede darauf hin, dass nun der Alkoholverkauf endet. Wir kaufen weiterhin nichts, fahren mit dem Bus zur Malmö C (Malmö centralstation), bekommen dort – in einer wunderbaren Wartehalle – kanel- und kardemummabullar. bullar ist die Mehrzahl von bulle, hierzulande sagen manche Hefeteilchen.

Dieses Hefegebäck heißt in Schweden je nach Form kanelsnäcka, -snurra, -knut, -snigel oder -snegl: Zimtschnecke, -schnur, -knoten, -schlange, ) und ist mit geriebener Rinde von Cinnamomum gewürzt, mit einem der ältesten Gewürze überhaupt. Früher wurde fast ausschließlich die Rinde von Cinnamomum verum, des Echten Zimtbaumes, verwendet, in Indien und China schon 2000 vor Christus.

Mein persönlicher Hit sind Kardemummabullar. Auf dem Rost kühlem hier wahrscheinlich Kardemummaknut ab.

Sie enthalten Milch, Hefe, Butter, Zucker, Salz, Ei und auf ein knappes Kilo Mehl mindestens zwei großzügige Esslöffel Samen von Elettaria cardamomun, einer Pflanze aus der auch sonst aromareichen Familie der Ingwergewächse.

Wir sind gerade die einzigen Wartenden und genießen den Ort und seine Backwaren nahezu andächtig.

Dieser Wartesaal in Malmös Hauptbahnhof heißt Gröna hallen, Grüne Halle. Von hier aus ging es Ende des 19. Jahrhunderts über Seitentreppen ins Restaurant oder zum Buffet. Marlene Stadie

Sind dann mit dem Bus vorbei an nagelneuen Neubauprojekten nach Ribersborg gefahren. Das Quartier am Öresund verfügt über einen langen städtischen Strand, von 1937 bis 1943 errichtete funktionalistisch und modernistisch genannte Hochhäuser, und ein nach Geschlechtern getrenntes Kallbadhus.

Malmös Strandstadtteil Ribersborg am Öresund 1942

Kallbadhus heißt zwar wörtlich übersetzt Kaltbadehaus, hat aber nur für wenige Minuten mit Kälte zu tun. Im strengen skandinavischen Sinn ist die Anlage an Ribersborgs Strand eine Bastu, so lautet die Kurzform für badstuga. Und bad, badh, bað, badda bedeutet in diversen nordischen und altnordischen Sprachen Wärme. Die Finnen switchten irgendwann zur Bezeichnung Sauna, die sich dann auch jenseits von Nordeuropa verbreitet hat, auch in Gegenden, wo es nicht schon im Mittelalter warme Stuben für die kollektive Körperpflege, bastuger, gab.

Das Badehaus in Malmö wurde 1889 errichtet. Und wo wir schon bei den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts am Öresund sind: in meinem Reisegepäck steckte eine Biografie: Filmgenie und Neue Frau – ASTA NIELSEN. Und die verlebte, wie Barbara Beuys innig beschreibt, in Malmö zu jener Ortszeit ihre glücklichsten Kindheitsjahre.

Die achtjährige Asta Nielsen (links) mit ihrer Schwester Johanne.

Weil der Vater dort Arbeit gefunden hatte, war die dänische Familie mit dem Schiff von Kopenhagen über den Öresund nach Schweden gefahren (die Brücke gibt es ja erst seit 2000). Die spätere neue Frau wuchs so in zwei Sprachen und verschiedenen Welten auf, zunächst in zwei kleinen Zimmern im ersten Stock eines Hinterhauses in Malmös damals wachsenden Arbeiterviertel Möllevången.

In einem Viertel namens Möllevången spielen ein bereits in den 1930ern erfolgreiches Theaterstück und eine schwedische Dauerbrenner-TV-Serie der späten 1970er. Mehr weiß ich darüber nicht, stelle mir aber das Viertel von Astas Kinderzeit etwa so vor.

Als Asta fünf Jahre alt ist, zieht Familie Nielsen in die Store Humlegatan, wo auch die Prostituierte Augusta Charlotta Carlsson lebt und arbeitet. Sie tritt im – sowohl in Sachen Illustration, als auch in Sachen Text – enorm erfreulichen Buch ASTA NIELSEN. IM PARADIES. ERZÄHLUNGEN. ILLUSTRIERT VON KAT MENSCHICK auf, auch das habe ich im karierten Koffer, Frau Carlsson, genannt Lotte, „die ich heiß liebte“, wie Nielsen, nunmehr unter anderem Filmgenie und Neue Frau, schreibt. Im Rückblick auf ihre Zeit in Malmös Prostituierten-Viertel nennt sie Carlsson und ihre Kolleginnen Damen, auch wenn andere damals dieser Bezeichnung wohl Anführungszeichen verpasst hätten, „in der üblichen Lesart“. Nielsen hatte es aber nicht so mit dem Üblichen.

Humlegatan, Ecke Grönegatan, Malmö, hier lebte Asta Nielsen als Kind, Malmö museum

Das Kallbadhus musste 1898, ein Jahr bevor Familie Nielsen zurück nach Kopenhagen ziehen musste, von seinem Standort im wachsenden Hafen nach Ribersborg umziehen und wird von Jung – jüngere und zugezogene Malmöer*innen sagen Kallis – und Alt – die Älteren nennen ihr Kallbadhus nach seinem Standort Ribban – weiterhin geliebt.

Badstuga, 1889 dargestellt vom finnischen Künstler Akseli Gallen-Kallelas

Von einer Bank aus, die aus augenscheinlich gutem Grund ein Fotograf gespendet hat, fotografiere ich zunächst Schwäne im Seetang und die grauen Wolken, die noch über der Sauna hängen (nachher haben wir doch wirklich nackt in der Sonne gesessen!) und lese sehr erfreut auf einer Schautafel, dass es sehr viel Kabeljau im Öresund gibt, weil sie dort schon 1932 die Trawler verboten haben.

Und dann waren Marlene und ich die ersten. Hockten kurz vor zehn auf der Holzbank vorm Eingang und erfuhren von Willi, einem vertrauenswürdig wirkenden älteren Herrn, ein Sturm habe die dame-bastu fortgerissen, sie sei nach Dänemark abgetrieben:).

Da bezieht er sich auf eine wahre Geschichte: 1902 tobte ein sogenannter Weihnachtssturm über Südschweden und zerstörte Teile der Badeanstalt.

Im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau, so steht auf der site ribersborgskallbadhus.se zu lesen, wurde auf der Seite der Herren ein Sprungturm mit Aussicht über den Sund und die Damenoberbekleidung errichtet.

Die Geschlechtertrennung heben die Betreiber*innen der heutigen und morgigen Sauna unter bunter Flagge jeweils am ersten Montag im Monat auf, dann ist Queer Kallis für alle in allen Räumen geöffnet unabhängig von Körper und Identität, als offene Oase in Malmö. Am letzten Donnerstag im Dezember waren wir unwissentlich hautnah dran an einer uralten skandinavischen Tradition, dem Julbad. Es diente über die Jahrhunderte zum Jahresende der Erwärmung, Hygiene und Geselligkeit. Dieser Brauch wird offentsichtlich vor allem von Malmös Männern wiederaufgewärmt. Sie kamen wie auf dem Laufsteg auf uns zu geschlendert, mit ihren unterschiedlichen Handtuchbehältern, auf dem lässigen Weg zum Jahresendbad.

Bei den Damen war es nicht so voll. Und selbst bei Gedränge ist Runterfahren erste Bürgerinnenpflicht im Kallis, Meckern und Drängeln geht gar nicht. Und wenn wir nicht ordentlich aufrücken, als Unterlage sind etwa I-Pad-große Handtüchlein üblich, oder in der Schweigesauna sabbeln, gibt es dezente Hinweise der Meisterin, die alle sofort befolgen.

Bis auf eine, aber von der wollen wir schweigen, denn neben den Handtuchhaken steht es ja: „28 Decemb… LAND: 7 HAV: 2,1 Tänk, sa bra vi har det! Takk för sol, hav, fred & BÁSTU“. Land sieben Grad, Wasser 2,1 Grad; denkt euch, wie gut wir es haben! Danke für die Sonne, fürs Meer, für den Frieden und das Bad. „Smultronstjället“ seufze ich, das steht für einen Ort wie eine versteckte wilde Walderdbeeren(smultron)-Stelle. Die Frau auf der grünen Bank gegenüber (Liegen und Ruheraum gibt es nicht) nickt und ergänzt: „passa på njut“, nutze jede Gelegenheit für Genuss!

Bekenne mich zum Jute-statt-Plastik-Hintergrund (gute alte Idee) und erwerbe oben abgebildeten Stoffbeutel für mein Badezeug. Was für ein Logo! Käme bei mir für ein Tatoo in Frage, Körperornamente lassen sich ja gerade im Badehaus prima präsentieren.

Im Wort kallbad ist neben der Wärme (bad) ja die Kälte enthalten, das Eintauchen in den Öresund. Was für ein schönes Schlottern! Nach dem Besuch im heißgeliebten Badehaus nutzten wir nochmal die Gelegenheit, uns im türkisgrünen Wartesaal zu vergnügen, und stiegen dann in den snabbtåg (Schnellzug) nach Stockholm, in dem uns auf Grund der überhöhten Geschwindigkeit ziemlich schwummerig wurde. Der Stockholmer Bahnhof ist weitgehend trostlos, wir landeten in einer sogenannten Launch im Untergrund, wo unterschiedliche Nutzer*innen aufeinanderprallen, und waren etwas reisekrank.

Schwedens Expansion nach Norden fügte dem Götaland im Süden Svea- und Norrland hinzu. Wir durchfuhren alte und neuere Landesteile schlafend.

Wohlbefinden kam erst wieder im Nattåget Norrland auf. , Norrland der traditionelle Name des nördlichsten und größten der drei schwedischen Landesteile. Nattåget ist der Nachtzug. Betrieben wird er von Vy, Norwegens staatseigenem Transportkonzern, dem größten landbasierten des Nachbarlandes, der sich zu Recht als Teil der Lösung für Klimaherausforderungen sieht. Mittels Pünktlichkeit und moderater Preise. Und Gemütlichkeit. „Kvalitetstiden börjar på tåget“. So steht es in Vys Magazin. Wir verschlafen viele Qualitätsstunden, Gävle, Sundsvall und Umeå, die Städte am Bottnischen Meerbusen, und die Sterne überm schwedischen Lappland.

Warum sich mit fünf Sternen begnügen? Werbung für den schwedischen Teil Lapplands im Nattåget Norrland, in Vys magasin, in dem auch berichtet wird, dass es Zugpendler zwischen Stockholm und Lappland gebe: Jede Zugreise zählt! Übersetzung: „Selbstverständlich haben auch wir von 5-Sterne-Hotels gehört. Aber wenn wir selbst wählen, nehmen wir lieber eines mit wesentlich mehr Sternen. Schwedens arktische Reiseziele bieten ein Nachtleben voller Sterne und Nordlicht. … und Stille.“

Die Bezeichnung Lappen für die samischen Völker ist diskriminierend und daher nicht mehr gebräuchlich, das schwedische und norwegische Wort Lappland (finnisch Lappi, russisch Лапландия Laplandija) bezeichnet aber weiterhin eine Landschaft in Nordeuropa. Sie ist zugleich Sápmi, Siedlungsgebiet und Kulturraum der Sámi.

Sápmi, wie sie auf Nordsamisch heißt (lulesamisch Sábme oder Sámeednam, südsamisch Saepmie,  umesamisch Sábmie, skoltsamisch Sääʹmjânnam, norwegisch Sameland), ist die Nation der Sámi.

Sápmi (siehe oben), wie sie auf Nordsamisch heißt (lulesamisch Sábme oder Sámeednam, südsamisch Saepmie, umesamisch Sábmie, skoltsamisch Sääʹmjânnam, norwegisch Sameland), die Nation der Sámi, umfasst den nördlichen Teil der fennoskandinavischen Halbinsel (siehe unten), die gesamte Nordkalotte (siehe darunter).

Fennoskandia

Wir hatten und haben es hier auch mit der Macht der Geographie zu tun, die uns der Brite Tim Marshall im gleichnamigen Buch anhand von zehn Karten erklärt. Staatenbildung fällt für diesen Außenpolitik-Kenner in die Rubrik historisches „Erbe der Geopolitik“, sein Blick in die Zukunft galt schon 2015 „dem zunehmenden Wettbewerb in der Arktis“, auf seiner Karte von RUSSLAND (die ich mich nicht zu „klauen“ traue) verläuft die Grenze zwischen Europa und Asien, der Ural, zwischen dem U und dem S; ist es von Murmansk nur ein Katzensprung auf den Schwanz des fennoskandischen „Tigers“; verbindet das NORDPOLARMEER über mindestens sieben Längengrade hinweg Island mit Alaska.

Nordkalotte

Die Grenzen der traditionell Lappland genannten Landschaft verwehen und zerfließen. Oft ist damit der nördlich des Polarkreises gelegene Teil der Nordkalotte gemeint. Und ich befinde mich, während ich in Stamsund auf der Lofoten-Insel Vestvågøya, Ortszeit 14/01/19:15, auf dem Vestfjord tutet pünktlich die Hurtigrute, auf dem Herd brodelt Fischsuppe mit Algen aus diesem Fjord, dieses Reiselogbuch schreibe, also in Sápmi – inmitten von Nordkalotten-Genüssen, unter sternklarem Himmel mit Andeutungen von Nordlicht.

Nordlicht (schwedisch norrsken, norwegisch nordlys), Anna Boberg

Anna Boberg zog es auch immer wieder auf die Nordkalotte. Lofoten International Art Festival (2019liaf.no) schreibt, das erste Mal sei sie 1901 von Kiruna zu Fuß gekommen und habe damit ihren Ruf als Polarabenteurerin und Freiluft-Künstlerin begründet.


Dieses Porträt der schwedischen Malerin Anna Boberg hängt im kunstnerhus/Svolvær/Lofoten, sie posiert vor einem weißen Tuch, das eisige Einöde symbolisiert, mit Robbenfellmantel, samischen Stiefeln und Outdoor-Malausrüstung. Das war laut Lofoten International Art Festival (2019liaf.no) nicht nur PR: „Anna füllte dieses mythische, romantische Image der/des artist-as-adventurer mit Leben.“ Die Künstler*innen kämen und gingen wie Ebbe und Flut. Boberg sei immer wieder auf die Lofoten-Inseln gekommen und habe auch den Grundstein für die Ateliers und Residenz in Svolvær gelegt, das heutige kunstnerhus/Svolvær/Lofoten (siehe Teil 2, folgt in Kürze)

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