Der karierte Koffer

Der karierte Koffer fährt nach Fryslân, Teil 11

4. August 2024

tanze Sonntag, den 4. – 17:08 – PRINSENTUINCONCERTEN/Leeuwarden –

viele Stunden, nachdem ich Jaimes (rechts) „famille heureuse“ kennenlernen durfte. Ich treffe sie gegen neun im Frühstücksraum des ´t Anker. Kelly ist die jüngste Tochter des griechischen Sängers Demis Roussos. Als ihr Vater 1968 mit der Rock-Band Aphrodite ´s Child von Rain and Tears sang, übte ich gerade, unglücklich verliebt zu sein; als er 1973 solo Goobye, My Love, Goodbye sang, war ich bereits eingearbeitet.

Kellys Vater Demis Roussos 1972 in Turin

Kelly ist enorm herzlich und lernt gerade Deutsch. Sie betreibt in ihrem Haus im belgischen Limburg ein griechisches Kafenion. Ich bin dorthin herzlich eingeladen und mir steigt sofort ein Bild aus den 1970ern auf, als die Zykladen-Insel Sifnos noch nicht mal über ein Hotel verfügte, wir in einem Schafstall schliefen und im örtlichen Café, dem Kafenion von Kamáres, die einzigen Außergriechischen waren. Wir setzten uns hinein mit unseren Strickzeugen – hatten gerade dicke griechische Schaffwolle gekauft. Unsere griechische Mitstrickerin hatte noch nie Rundstricknadeln aus Plastik gesehen und war noch nicht einmal in ihrem langen Leben auf die andere Seite der maximal 7,5 Kilometer breiten Insel gekommen und warnte uns vor dieser Wanderung ausdrücklich. Wir stiegen trotzdem über Sifnos zum Häfchen Fáros, wo uns ein Taucher, der keine Meeresfrüchte mochte, am Strand Seeigel servierte, die ich ungeniert (wie weiß ich nicht mehr) und ungekocht aß. Bekam mir alles gut. Und am Abend saßen wir dann wieder im Kafenion. Nein, wir haben dort keinen griechischen Wein getrunken, eher Kaffee, wobei Sifnos für eine Zykladeninsel verhältnismäßig grün ist und dort nach meiner intensiven Erfahrung hervorragender Wein angebaut wird. Das weiß ich so gut, bis heute, denn unser ungewollter Wirt, der Schäfer, in dessen Stall (ohne Schafe) wir die erste Nacht auf der Insel verbrachten, beschrieb uns mit Handbwegungen und Geräuschen seine weiteren Tätigkeiten (Imkern und Keltern) und lud uns in sein kleines weißes Haus zu Kostproben ein. Der Wein war fast schwarz und wohl der beste Rotwein, den ich je getrunken habe. Danach brauchte ich erstmal einen Kaffee, im Kafenion.

Σίφνος, Zykladeninsel Sifnos „fifty years after“

Kellys Gefährte Rudi ist eher hager, eher Niederländer, freundlich zugewandt verschenkt er aandacht (s.o.) und arbeitet als Tierarzt.

Jaime ist ihr Adoptivsohn. Er bezeichnet sich selbst als portugiesisch/französisch/niederländisch; strahlt und drückt pure Lebensfreude aus und übt gerade weitere Sprachen, u.a. Niederländisch. „Mama ist rauchen“, sagt er zu mir, als ich Kelly suche.

„Ian is an old man“, sagt der Brite, der nun zu uns getreten ist, denn sie waren alle zusammen fast die ganze Nacht im Leeuwardener Club Scooters (Ruiterskwartier) zum Tanzen und Trinken und vor allem zum Life-Musik-Hören. Und kennen sich jetzt:), wie sie sagen. „Stay with us in Belgien!“, lautet Kellys Einladung auch an mich.

Die glückliche Familie verlässt uns, Ian setzt sich zu mir und meinem Müsli und betont, dass skûtsje aus Stahl seien. Und ich hielt sie doch glatt für Holzboote. Er möchte eine/s kaufen, für den Canal du Midi, vielleicht aber auch für die Themse, deswegen ist er hier. Er bestätigt mir auch als alter Bootsbauer, dass skûtsje zum Bootstyp tjalk gehören. 

Das niederländische Schifffahrtsforum (www.kustvaartforum.com) schreibt unter dieses Bild: „Die Tjalk in Binnen- und Küstenfahrt“. Auf einem anderen historischen Foto entdecke ich eine unter der Last fast versinkende Tjalk 1932 vor der Holzfabrik in Grou (siehe: Der karierte Koffer fährt nach Fryslân, Teil 11).

Unten sind die tragenden Bauteile einer Tjalk zu sehen, die Spanten. So zeichnet sie mir Ian auch in mein rotes Reisebuch.

Tjalk von vorn, Cornelis

Die, die heute die wedstrijden, die Regatten, bestreiten, erklärt mir Ian beim „breakfastplaining“ nach dem Anti-Kater-Kaffee, hätten „40% extra sail“ verglichen mit so einem alten Frachtsegler, wie er oben abgebildet sind.

Außerdem erzählt er mir, dass es für ihn als im WWII Geborenen selbstverständlich war, zur Navy zu gehen – vermutlich hat aber auch seine Leidenschaft für Schiffe mitgespielt…, und dass er mal die Gorch Fock besiegt hat. Dabei guckt er mich herausfordernd an, ich bleibe kühl:) und höre mir mit Interesse seine Pläne für den Bau von Schiffen aus Basaltmatten an, er braucht nur noch einen Platz dafür; verweise ihn ans Fair Winds Collective.

Dieses 1958 in den Dienst gestellte Segelschulschiff – zu sehen sind auf diesem Foto von 1968 sein Rigg, die Takelage aus Masten und Tauwerk, das sie hält, und ein Soldat der Deutschen Marine – besiegte Ian mit seiner Crew, wie er mir stolz berichtete.

Da sitzen wir schon wie altvertraut am Grachtufer Nieuwestad, und haben bereits in der Kleine Kerkstraat Fryske Droege woarst und dazu passendes Brot für unseren Mittagsimbiss an der Gracht und Fahrkarten fürs Praamvaren (achtförmige Grachtentour mit einem Elektro-Prahm) sowie die ultimativen Café-Tipps (Fire in der Binnenstad und Koperen Tuin nördlich davon) erhalten. Das Fire am gegenüberliegenden Ufer testen wir sofort, und kriegen spitzenmäßigen Kaffee, bevor wir in den praam steigen. Solche flachen Boote dienten ursprünglich als Fähre zum Übersetzen von Menschen, Vieh und Wagen.

Nicolaes Witsen, unter anderem Bürgermeister von Amsterdam, erstellte 1690 ein Buch über den Schiffbau mit zahlreichen Kupferstichen, einer davon zeigt einen Prahm. Und Ian und ich besteigen an diesem Tag einen elektrischen Prahm für den beschaulichen Transport von Touristinnen.

Unser Transportmittel ist vollbesetzt und hat sich in Bewegung gesetzt, als Ian mir den nächsten niederländischen Bootstyp beschreibt: die ark. Sie habe einen steil geschnittenen Rumpf. Finde selbst in der niederländischen Wiki nur den Hinweis auf eine woonark, und füge das Bild mal ein, weil Ian ja so gerne auf einem Boot wohnen will.

Wohnboot vom Typ ark in Leiden, Vysotsky

Wir fahren nun nach Ansage unseres Prahmtour-Führers an der ersten Filiale von C & A vorbei. Diese Ladenkette ist mir aus der Kindheit vertraut, von den lästigen Einkaufsbummeln mit meiner Mutter. Clemens und August Brenninkmeijer gründeten 1841 in Sneek – das ist eine der friesischen ELFSTEDEN – ihr Unternehmen C. & A. Brenninkmeijer. 40 Jahre später eröffnete in Leeuwarden die erste Filiale. Verkauft wurden dort Manufakturwaren, Textilien, die nach Wunsch des/der Käufer/s/in geschnitten wurden – davon könnte ich jetzt als Tochter einer leidenschaftlichen und wirklich hervorragenden Hobbyschneiderin, die trotz ihrer Fertigkeiten und Fähigkeiten dem Hausfrauen-Gefängnis nicht entkam, ein Liedchen singen. Erinnere mich noch genau an das ratschende Geräusch der Schere, die durch den Stoff gezogen wurde und vermute, dass nach Maßgabe meiner Mutter vor meinen weitgehend unbeteiligten Augen so einige Kilometer Meterware über den Tisch gingen. Aber nicht bei C & A in der Hamburger Mönckebergstraße. Dort wurde Damen- und Kinderoberbekleidung angeschafft, und zwar nur solche, die meine Mutter nicht nähen oder stricken konnte.

Nun fahren wir bei der Waage vorbei und ich lerne, dass die Statue davor eine Milchfrau darstellt.

Von da unten lässt sich auch sehr gut erkennen, das wir dort cruisen, wo früher die Flut der Middelzee auflief, hart an der Flanke der terp (Warft), denn links von uns, auf der Seite der Binnenstad und des Eewal, erhebt sich das Ufer höher als auf der rechten Seite. Nun verweist uns der Guide auf eine weitere Statue, eine kleine, oben auf der Brücke, die „Tänzerin Margaretha“, es ist ein Denkmal für die Leeuwardnerin Mata Hari.

Wir bekommen Einsicht in ein aufregendes Geflecht von Gewölben und Kellern unter der Stadt.

Als wir unter der Fischmarktbrücke (vismarktpeip) durchfahren, hören wir, dass Leeuwarden früher drei Fischmärkte hatte, je einer davon war ausschließlich für Meeres- beziehungsweise Süßwasserfische vorgesehen. 

Wir sehen den kleinsten Laden der Stadt und seine alte Centraal Apotek, den uralten Eisladen La Venezia, den „first skyscraper“, passieren ein pakhuis (Lagerhaus). Und dann erblickt Ian eine Tjalk. Wir wollen ja beide rechthaben, deswegen verweise ich auf die unendlich viele Arbeit, die so eine Wohnung auf dem Wasser mit sich bringt, aber er ist Optimist.

Nun erreichen wir De Blokhuispoort. Hier, an der Südostecke der alten Binnenstad, gab es seit dem 15. Jahrhundert ein Gefängnis. Die neuen Herrscher – Friesland wurde 1498 durch Albrecht von Sachsen unterworfen, was nicht ohne kriegerische Auseinandersetzungen einherging, die Friesen lehnten sich auch gegen die übergroße Macht des Heiligen Römischen Reiches auf – inhaftierten dort Aufständische und errichteten eine Zwingburg – eine Festung, von der aus das umgebende Land beherrscht wurde. Solche Burgen wurden zur Sicherung der Herrschaft in Gebieten errichtet, deren Bevölkerung als nicht ausreichend loyal eingeschätzt wurde, und gehörten im ansonsten wenig bebauten mittelalterlichen Europa zu den unverzichtbaren Mitteln der Machtausübung. 
Wo bis Ende 2007 in 180 Zellen Häftlinge einsaßen, befinden sich heute ein Kulturzentrum und eine Herberge namens Alibi-Hotel, die immer ausgebucht ist.

Kommen an dem Haus vorbei, wo Rembrandt um des Bürgermeisters Tochter Saskia freite.

Erkenne es aus dem Boot heraus nur schemenhaft; auf dem Selbstporträt von 1629 sein macht der Freier nach der damals in Patrizierkreisen vermutlich vorherrschenden spießigen Auffassung nicht gerade einen seriösen Eindruck:).

Rembrandt Harmenszoon van Rijn in der Zeit, als er die junge Leeuwardenerin Saskia van Uylenburgh kennenlernte, Nichte eines Kunsthändlers und Tocher eines reichen Patriziers.

Saskia van Uylenburgh aus Leeuwarden, sie heiratete 1634 Rembrandt Harmenszoon van Rijn, dargestellt von ihrem späteren Gatten

Werfe einen neugierigen Blick hinauf zu DE LEKTUURHALL – soviel Lesestoff überall, woher nehme ich bloß die Zeit, all die Bücher nicht zu lesen?

Wir hören von den Fledermäusen in Leeuwardens ausgedehntem Brücken- und Tunnelsystem und driften an einer Werft vorbei, wo Menschen ohne (anderen) Arbeitsplatz sich dem Bootsbau widmen.

Wir erfahren, dass De Harmonie eines der größten und besten Theater der Niederlande ist. Und ich versuche mit meinem winzigen Photophone einen „Praam-Selfie“ zu schießen beim Vorüberfahren. Bei sehr genauem Hinsehen sind wir in unserem schwarzen Gefährt zwischen den weißen Yachten als Spiegelung zu erkennen.

Blicken hinauf zur „Little Wallstreet“ und lernen, dass die Linden entlang der Grachten wegen ihres sommerlichen Blütenduftes gepflanzt wurden, der sollte die in der warmen Zeit besonders heftigen Gerüche der auch für allerlei Abwasser genutzten Wasserwege überspielen.

Den Mann aus der Zukunft sehe ich diesmal von unten.

Nach unserem Bootsbummel folgen wir der nächsten Café-Empfehlung der versierten Kartenverkäuferen für die Prahmfahrten: DE KOPEREN TUIN. Es befindet sich nördlichen der Innenstadt, wo auch auf dem heutigen Stadtplan noch die Zacken des ehemaligen Festungsgrabens zu erkennen sind.

Die Festung Leeuwarden im 17. Jahrhundert

Den dort gelegenen Park Prinsentuin, ursprünglich ein hochherrschaftlicher Lustgarten, schenkte der niederländische König Willem I im 19. Jahrhundert den Bürgern von Leuwarden. Das unten abgebildete Café thront auf dem ehemaligen Festungswall.

Von der Terrasse gucken wir auf einen Teich voll Entengrütze, in dessen Mitte Teichhühner brüten.

Das sonntägliche PRINSENTUINCONCERTEN funktioniert generationenübergreifend, jede/r genießt die Klänge der lokalen Rockband auf ihre oder seine Fasson.

Abends flanieren wir durch die Gassen, Ian erzählt von seiner Gegend, von Dorchester, Lancashire, Yorkshire, von den Life-Auftritten der Vier, die, als ich zehn Jahre alt und er schon ein fortgeschrittener Hörer war „I want to hold your hand“ gesungen haben, von The Who, die er mal für einen Kulturclub engagierte. Letztere gelten heute als eine der wichtigsten Bands der Musikgeschichte. 1965 schlugen sie uns jugendliche Verzweiflung um die Ohren: „things they look awful cold“. Den Song My Generation schrieb Pete Townsend mit 20, und siedelte unter anderem damit die Gruppe am aggressiven Flügel der „british invasion“, wie US-Amerikaner*innen die überwältigende Präsenz britischer Popmusik beschimpften, an. Wir rüttelten und schüttelten uns und wollten manchmal auch nur ein bisschen Händchenhalten:)

Ich kontere freundlich mit ein paar Hamburger Stories, wir kehren ein in der DAX Gastrobar, die uns, unbedingt zu Recht, ans Herz gelegt worden war, weil sie dort nämlich genau das bieten, was im Internet steht: ungezwungene Gastlichkeit und bezahlbare Gerichte von hoher Qualität. Ian hatte Fisch aus dem Meer, sliptong alias Seezunge, ich aus dem Süßwasser, nämlich Zander/snoekbars. Was will eine mehr?






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