Der karierte Koffer

Der karierte Koffer fährt nach Fryslân, Teil 6

speise Dienstag den 30. – De Walrus/Leeuwarden –

mehr als elf Stunden vorher sitze ich vor meiner Stammkneipe und gucke dieser kleinen Stadt beim Aufwachen und Aufmachen zu; verlege meinen Schreibplatz vors Café ´t Anker, wo Ester und Janaika, Mitarbeiterinnen im zugehörigen Hotel, gerade eine Pause einlegen. Der Name Janaika kommt aus der unter anderem im Iran gesprochenen Sprache Farsi, die Belegschaft ist total international und auch irgendwie phänomenal. Chris erklärt mir nun haarklein, wie ich zum Skutjesilen komme, dem nächsten friesischen Volkssport. Der Eewal ist eine entspannt geschäftige Straße, wo die Leute einander nicht nur kennen, sondern einander Aufmerksamkeit schenken, Zeit für einen kleinen Schnack haben. 

Es wird immer wärmer und immer stiller. Nach der kleinen morgendlichen Fußgänger*innen-Rush-Hour kehrt in meiner derzeitigen Hood Ruhe ein, die Tourist*innen kommen erst am Nachmittag. Und dann gerate ich unter Niederländer aller Provinzen, bei einer free tour erklärt uns Leonie, dass sie die Idee der free tours, bei denen jede/r zahle wenn oder was sie/er will, eigenhändig importiert hat, und warum der Turm Oude Hove schiefer als der von Pisa ist: er ist wurde quasi auf Sand gebaut, denn die Warft darunter, eine von Leeuwardens drei von Menschen aufgehäuften Ursprungsinseln der Stadt,  wurde auf den sandigen Untergrund gehäuft und trug so ein monumentales katholisches Statussymbol nicht. Das Ganze sollte nach – später übernahmen Protestanten die geglückten und misslungenen kirchlichen Gebäude – eine riesige Kathedrale werden, deren geplante Ausmaße heute Fontänen markieren.

Vor den Eindeichungen lag Leeuwarden noch an einem Ästuar namens Middelsee. So ein Ästuar haben wir auch bei Hamburg, es ist eine den Gezeiten ausgesetzte Flussmündung, und endet landeinwärts dort, an der wässrigen Grenze zwischen Brack- und  Süßwasser. Damals, so erzählt Leonie, wären Fischerei und Handel die wirtschaftlichen Schwerpunkte hier gewesen und wir bewundern das Heute mit dem Titel „Wir schauen zusammen der Sonne entgegen“. Dieses Stück Straßenkunst am Gemeindehaus zeigt ganz unterschiedliche Gesichter.

Liefen durch schmale Gänge und vertiefen unser Graffity- und Streetart-Know-how: die thematischen Wandgemälde gehören zur Streetart, die Schriftzüge u.a. eher zum Graffity. Im früheren Armenhaus leben heute Künstler*innen. Das Schicksal des Riesenbabies ist unwägbar, wie die Kugel in der Spielhalle:

Leonie zeigt uns, wo Laurence Alma-Tadema zur Schule ging, im Patershuis.

Geboren 1836 im westfriesischen Dronrijp, gelangte der Maler in Großbritannien zu großem Ruhm. Heute würden die Preise für die Bilder des Friesen enorm steigen, erzählt Leonie.

Lieblingsdichter heißt dieses Bild des in Friesland geborenen Malers Laurence Alma-Tademar, est stammt aus dem Jahr 1888.

Auf dem Pflaster zwischen Nieuwestad und Naauw, wo es zu den analogen butikjes geht, lese ich: „Gepriesen sei der Mann, der niemanden kränkt …“, soweit komme ich mit meiner Übersetzung, dann folgt: En mij aandacht (?) … und ein Bierchen schenkt. Und erfahre, dass mein Eewal, vor allem die angrenzenden  Plätze  Gouverneurs- und Radhuisplein das frühere „Funktionärsviertel“ darstellten. Leeuwarden war für damalige Verhältnisse zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine Großstatt und Residenz des Statthalters (stadhouder) der Provinz Friesland. Es war sehr warm, die lackierte Holzbank am Rand des Brunnens ums Statthalter-Monument glühte fast. Leonie zeigt uns den höchsten Punkt dieser auf drei flachen Hügeln errichteten Stadt, in der Großen Kirchstraße (Grote Kerkstraat). Von Erhebung kann hier keine Rede sein.

Und dann verrät sie uns einen Lieblingsplatz: die versteckten, aber doch allgemein zugänglichen Gärten vom Sint Anthony Gasthuis, historischen Stiftungshäusern für Menschen über 60. Sie führt uns auch zur Residenz von Tante Marijke, wie Marie Louise van Hessen Kassel, als Statthalterin von Friesland, Groningen und Drenthe die mächtigste Frau der Niederlande vor allem wegen ihrer Wohltätigkeit genannt wurde. Leonie nennt sie die Urmutter vieler Königshäuser. In ihrem  Leeuwardener Princessehof kam der Maler Maurits Cornelius Escher zu anderen Zeiten unter. 

Auf dem Gedenkstein für Leeuwardens jüdische Gemeinde sind die Namen der Straßen verzeichnet, wo die viele Juden gewohnt haben.

Dann bleiben wir, manche wie angewurzelt, vor der Gedenkstätte für die frühere jüdische Synagoge in Leeuwarden stehen. Ich bin die einzige Deutsche in einer großen Gruppe von Niederländer*innen. Leeuwarden hatte eine große jüdische Gemeinde mit rund 700 Mitgliedern, die Namen der vielen Deportierten und das Lager, in dem sie ermordet wurden sind auf Glasscheiben geschrieben, nicht in Stein gemeißelt, denn, so sagt Leonie, sie hätten ja keine Grabsteine bekommen. 

Auf dem Rückweg komme ich an einem Porzellanladen vorbei:

Das GRAND CAFÉ De Walrus ist wirklich grandios, mit immens hohen Innenräumen und es ist auch großartig. Sie servieren dort Detox-Saft aus Wurzeln und Früchten, der alles freifegt innerlich und ich bekomme nach 22 Uhr noch friesische Senfsuppe (Rezept folgt).

Lerne im De Walrus Demi kennen, sie studiert in Leeuwarden International Business und will nun für ein Jahr nach Bali gehen. Große Sprachprobleme befürchtet sie nicht: „Ich bin halb indonesisch“.

Und ein Gast verrät mir, was aandacht bedeutet: Aufmerksamkeit.

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