23. Juli 2024
zelebrieren, Dienstag, den 23. – 18:00 – Vega/Kaap de Groene Hoop (Kapp der grünen Hoffnung)/NDSM/Amsterdam –
zehn Stunden vorher klettert Peggy in die Takelage, um das Hissen einer niederländischen Flagge mit chinesischen Schriftzeichen soweit vorzubereiten, dass hinterher nur noch an den richtigen Leinen – oder Enden wie die Seefrau sagt – gezogen werden muss.

Dann nehmen wir – nach einer Idee von Jeremy – an Deck ein story-breakfast“. Peggys Frühstücksgeschichte geht unter die Haut: sie erzählt von jenem eisigen Januar auf der AVONTUUR, als die Klamotten nie mehr trocken wurden, sie bis auf die Knochen fror und sehr seekrank war und gelernt hat: „it´s only in your mind, you can go through ist“. Die Empfindlichkeit ändere sich auf See, sagt sie, eine werde weitaus empfindsamer für die Elemente um sie herum und verliere die ausschließlich auf den eigenen Körper gerichtete Befindlichkeit, werde Teil von Wind und Wogen und allen Wettern. Alle Wetter! Jeremy hat lange in Shanghai gelebt und dort erlebt, das Worte bei der Teezeremonie keine Rolle spielen. Alle zusammen zelebrieren wir Lauras Luxusfrühstück, es enthält ziemlich viele Elemente, mindestens fünf – nach der chinesischen Lehre: Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Kurz bevor ich das hier schreibe, schrubbe ich mit viel Wasser das Deck, Peggy hat zuvor Salz gestreut, damit die Planken daran „gewöhnt bleiben“, und vom Schrubber steigt ein Hauch von CHAMPAGNE M-MARCOULT TRADITION, den Jeremy direkt aus Frankreich zur Zeremonie importiert hat, und mir flogen die Funken von den Schweißarbeiten auf dem Nachbarschiff auf unserer Backbordseite um die Ohren: Holz, Feuer, Salz der Erde, Metallarbeiten und Wasserschlauch.

An Vegas Backbordseite wird getragen und geschweißt, ein paar Boote weiter weht auch eine Regenbogenflagge, ein queerer Club an Bord ist irgendwo dort geplant.
Später gingen wir einkaufen für die Zeremonie, und ich als uralte Öko-Aktivistin grolle doch ein wenig, dass die Proviantierung hier auf dem Kapp der grünen Hoffnung – ansonsten eher enkeltauglich ausgerichtet – ziemlich altmodisch erfolgen muss, mit in ganz viele ziemlich kleine Plastikverpackungen energieaufwändig eingeschweißten und energieaufwändig aufbereiteten Nahrungsmitteln. Peggy verliert prinzipiell die milde Laune nicht und ich lasse mich anstecken.

Verschiedene Arten von bitterballen serviert in einem Lokal in Gelderland, einer Provinz in der östlichen Mitte der Niederlande, Ziko van Dijk
So segeln wir durch den Supermarkt und fischen zum Beispiel bitterballen. Hier greife ich zu Wikipedia, weil ich an regionalen Lokalen, Lebensweisen und -mitteln nicht vorbeikomme: Bitterballen (Plural; Singular: bitterbal) sind demnach in den Niederlanden, Flandern, Suriname und Indonesien beliebt, traditionell werden sie hier und dort mit Fleischragout gefüllt und frittiert, haben einen Durchmesser von rund drei Zentimetern. Unsere sind fleischfrei. Und die mit Marzipan gefüllten Mandelkuchen glänzen verlockend, selbst durch die Plastikverpackung. Trotzdem: please try to be verpackungsfrei, think of our oceans!
Und dann legten wir an Bord alle die Arbeit oder was auch immer nieder, denn es hieß: all hands on deck. So heißt es, wenn alle – außer der Köchin oder dem Koch – an Deck gebraucht werden. Wir mussten gemeinsam das Rettungsrennboot der Vega, das an Steuerbord über Bord hing, an Bord holen, weil dort ein Schiff einlief, und was für eins!

Alexia Balandijau, Kapitänin vom urbanboat, Martin, Peggy
Alexia ist die Kaptänin von urbanboat.fr. Auf Französisch: „Lieu de diffusion et de création artistique itinérant. Auf Englisch: „We are bringing art“, so sagt es Martin (Bildmitte). Residencies and navigating concert´s venue, so steht es auf der Website. Alexia erklärt, dass ihre Schute gerade zum ersten Mal als quasi touringboat fungiert. Sie haben drei Bands an Bord, die zuvor in Utrecht und Bruxelles aufgetreten sind und gestern, während wir gefühlt hundert Chinesinnen im Laderaum der Vega zu Gast hatten, ertönte im Laderaum nebenan liebliche und auch mal laute Life-Musik – Lebensmusik…

Nein, sie brüllt nicht, das sieht nur so aus! Die Verständigung über sustainability wird immer schwieriger, jetzt, wo der Begriff ausleiert wie ein altes T-Shirt. Und nicht jede/r will wirklich Mutter Erde retten.
Als dann die mindestens zwanzigköpfige Delegation eingetroffen ist, geht es ans Diskutieren, und ans Hissen:

Jérémy Fouriaux, Gründer von Eco Klipper, zieht die Strippen; der Software-Entwickler stammt aus Frankreich, lebt zur Zeit mit Frau und Kind in den Schweizer Bergen, wollte gerne anderes entwickeln als künstliche Intelligenz, mietete die Vega, und plant jetzt mit naval architects den Transport unter Segeln für morgen und übermorgen.
Quanzhou steht auf dieser Flagge, auf Chinesisch. Wie die Zeichen der Stadt, die sich gestern mit Amsterdam verpartnert hat, aussehen, hatte mir Tao zuvor in mein rotes Moleskine geschrieben:

Eine diverse Seite aus meinem roten Reisenotizbuch: Oben die verrückten Lampen, die seit fast hundert Jahren fürs „Wir wissen es nicht besser“ von Bet van Beerens (da sie vor der Eröffnung ihres weltoffenen Lokals Fischverkäuferin war, auch Betje Bokkum (nach Bokkum = geräucherter Hering) genannt) queerer Amsterdamer Kneipe ´t Mandje verweisen; darunter die Hinweise unseres Mondkalenders, die Peggy täglich feierlich verkündet, für den Montag, an dem der Mond abnahm und wir aufgefordert waren, verrückte Gedanken umzusetzen; unten Taos wertvolle Hinweise zur Teekultur, die ansonsten weitgehend ohne Worte auskommt. Er zelebrierte mit uns 烏龍茶 / 乌龙茶, Schwarzer-Drachen-Tee, Oolong, dessen Oxidationsstufe bei der Fermentation zwischem grünem und schwarzem Tee liegt – seine Tipps lauten: Iron Buddha & Buddhas Hand – und schrieb mir Quanzhou ins Buch.
Zu den Gästen an Bord gehört Kees. Er hat Jahrzehnte in der Amsterdamer Handelskammer hinter sich, und wo lernt einer mehr? Als alter Amsterdamer blickt er nach vorn: „train and boat is the best way.“ Er unterstützt das Fair Winds Collective, weil ihm „a clean way of transportation“ am Herzen liegt.

Und dann bringt Peggy ein Strahlen in seine Augen, denn sie reicht Kakaobohnen, angebaut nach jahrtausendealter Maya-Tradition in Belize, „wild wild cacao sailed by the Ide Min – best quality worldwide“. Die Ide Min ist unser übernächstes Nachbarschiff. Vor vier Wochen ist die Crew mit Kaffee, Kakao und Rum in Amsterdam eingelaufen, die Fahrt wurde enorm in die Länge gezogen, weil sie ohne Motor in eine Flaute gerieten, erfahren wir nebenbei. Nachdem er sich die zweite Bohne hat auf der Zunge zergehen lassen, erzählt Brouwer uns, dass sein Amsterdam einst der größte Kakaohafen der Welt war. Und dass er sich sehr gefreut habe, als die Produzent*innen in Ghana begonnen haben, die Kakaopaste im eigenen Land zu produzieren, so dass sie auch den ihnen zustehenden Gewinn einfahren können. Es freut Kees auch, dass das Areal, auf dem wir gerade aus verschiedensten Richtungen zusammenkommen das von Kaap Kargo und Hafeneigner Huib organisierte Kapp der grünen Hoffnung, immer wichtiger wird.
Auf Kaap Kargo, dem Areal auf dem ehemaligen Werftgelände (NDSM) würden die Leute würden ehrlich miteinander umgehen, erzählt Peggy, und lernen, zu interagieren. Diese neue Werft – das Wort kommt übrigens aus dem Altniederländischen und bedeutet: Die/Der am Wasser baut -, sei auch ein Bauplatz für „sustainable diversity“, rein menschlich gesehen.

Diversität herrscht an diesem Tag auf der Vega auf jeden Fall. Jeroen macht Fotos. Er hat Film studiert und mit einem Kollegen im Rollstuhl gefilmt. Das brachte ihn auf den Gedanken, Menschen mit Handikap zu unterstützen und ihr Leben sichtbar zu machen, mit seiner Kamera.
Zwischendurch erklärt Jéróme immer mal wieder das Konzept von Eco Klipper, in Partnerschaft mit naval architects (the german word ist missing right now) gilt es jetzt, neue Segelschiffe zu entwickeln und insgesamt zusammen eine „haltbare“ sustainable world. Eco Klipper wiederum gehört zum Fairwinds Collective, dessen Mitglieder alle am gleichen Seil ziehen, alle nachhaltigen Segelprojekte mit allen Kräften unterstützen – und nicht auf guten Wind warten. Demnächst wird die Vega wohl erstmal Frauen vorwärts bringen. Fair Winds plant einen Törn fürs „equality and female empowerment at sea“.

Kees (oben in der Mitte), wie er sich mir vorstellte, ist Kees Brouwer, Chairman von EU Sino Business Consulting, sie bauen an europäisch-chinesischer Vernetzung, und betonte die Gemeinsamkeiten von Amsterdam und Quanzhou im Südosten Chinas. Quanzhou, das hatten wir schon am Vorabend von Tao gelernt, war einmal einer der größten Häfen der Welt. Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts der einzige chinesische Hafen, der für den internationalen Handel geöffnet war.
Tao erzählte uns beim Tee auch von den Tee-Rennen der Klipper. Diese im 19. Jahrhundert in den USA entwickelten Fracht-Segelschiffe mit einem messerscharf geschnittenen Bug, bei denen der Frachtraum zugunsten der Geschwindigkeit reduziert wurde, die hauptsächlich Güter transportierten, die schnell ans Ziel kommen mussten – Tee, Wolle, Früchte, Eis, Post -, sie lieferten sich in Konkurrenz um die erste Lieferung Tee der neuen Ernte zwischen China (der Start erfolgte vorm Beladen) und England.

Beim Großen Tee-Rennen von 1866 lieferten sich die Klipper Taeping und Ariel einen Kopf-an-Kopf-Zieleinlauf. Die Taeping war nur 20 Minuten früher in Gravesend an der Themse.
Kees schätzt sowohl Amsterdam als auch Quanzhou als „strong in design“. Und dann geht es, bis schließlich Peggy und Jéróme die Worte ergreifen, nicht etwa um Mobilität, sondern um Immobilien.
Wir hatten ja so einiges an Häppchen aufgetragen, aber die Delegation verließ uns in Richtung Sea Palace, eines schwimmenden chinesischen Restaurant, und wir teilten das Fingerfood mit den Bands auf ihrem Touringboot.

Spontan entstandene Traum-Crew: Jorne, Gründer von Fair Transport; Clara, die all die Inspirierten interviewte und filmte; Rafaele, der nahezu jedem Schiff die passenden Segel verpasst; Jéróme; Laura, Teilzeitpiratin; Prya, vorausschauende Businessfrau
Später berichtete mir der Italiener Rafaele, navale architect, über Fortschritte in Sachen Frachtsegler. Neue Batterien entstehen und es gibt Bestrebungen, die unterm Schiff entstehenden Luftblasen fürs Vorwärtskommen zu nutzen. Seine Kollegin Priya stammt aus Indien und begeistert sich wie ich am „intercontinental exchange of energies“. Und Jorne hat 15 Jahre Kakao, Schokolade und Rum gesegelt, und den Kaffee TRES HOMBRES aus Kolumbien.

Female Empowerment: Clara und Priya am Steuer der Vega
Priya, Wirtschaftsexpertin, setzt auf „exchange of energies“. Mit Rafaele bringt sie in der Firma Orelia „green ship concepts“ voran. Ihre Methode: „uniting ship & green solutions“, so versuchen sie, nahezu jedes Wasserfahrzeug klima- und meerschonend zu bewegen.
lehne mich zurück, Mittwoch, den 24. – 18:14 – Rechtboomsloot/Amsterdam –
aber vorher klettert schon wieder spannender Besuch an Bord, Marianne kommt gerade aus Órgiva, dieser Ort in den südspnischen Bergen ist mir vertraut, weil von die die Kooperative Andasol Avocados, Orangen, Olivenöl und andere ökologische Schätze nach Hamburg liefert. Das ist beileibe nicht die einzige Gemeinsamkeit. Marianne ist als Erste Offizierin auf einem Forschungsschiff nach Spitzbergen gefahren. Dort war ich auch, auch auf einem Forschungsschiff, aber gehörte als Biologin zur wissenschaftlichen Crew. Ihre Forschungsfahrt galt Walen und Eisbeeren, die Wissenschaftler*innen kamen von der Universität Groningen – und sie setzten ihre Fahrt bis in den Orinoko fort; wir Forscher*innen von der Uni Hamburg untersuchten die Meeresalgen am polaren Eisrand.

Marianne und Jéróme
Als Marianne ihre Ausbildung am Nautical College Terschelling absolvierte, war sie eine von fünf Frauen unter 150 Männern. Und als sie in meine Kabine lugt, entdeckt sie dort das Buch von Tania Aebi, die mit 18 Jahren alleine um die Welt segelte. Sie stünde mit Aebi im Kontakt, ruft Marianne mir zu. Und es scheint so, als wäre auch für uns Kontakt vorgesehen, begegne ich Marianne doch „exakt“, als sie am Abend auf die Fähre geht, auf die, die mich nach meinem Zurücklehnen und Bummeln zurück aufs Kaap bringt.

Fähranleger und Bahnhof liegen in Amsterdam nur wenige Schritte auseinander. The Sound of Amsterdam, das sind Dialoge in allen Sprachen und in verträglicher Lautstärke – na gut, eine Passantin wird ein wenig lauter: it´s not my fucking problem!“, aber nur kurz; eher Läuten und Klingeln als Hupen; die Saz, die jemand an der roten Bahnhofsmauer sehr kundig spielt. Hinter den Schienen liegt der alte Bahnhof, wir Fußgängerströme flanieren durch einen Tunnel, was nicht nur wegen der Kacheln Spaß macht, sondern auch, weil absolut niemand sich aggressiv vorwärtswühlt. „Leaned back“ seien die Leute hier, erzählt mir Anton. Er sitzt auf dem Sofa im LOOK UP neben mir und erklärt mir die heutige christliche Welt, auf Anfrage.

Anton arbeitet bei Youth with a mission. Dieser konfessionsübergreifenden, christlichen missionarischen Organisation dienen weltweit 18.000 Freiwillige und es kommen ihr enorme Spenden zu. Das Gebäude, in dem sich ihr Laden für „coffee, books and art“ befindet, hätte andere Millionen gekostet, die nach der Parole „know god and make him known“ Tätigen bekamen es für 100.000.

Bahnhofsblick von der Bank vorm LOOK UP, dem Bookstore der christlichen missionarischen Organisation Youth with a Mission
Und die Bank davor lässt mich schon das zweite Mal zurücklehnen (Das erste Mal lehnte ich lange an der Bahnhofsmauer, um den Saz-Klängen zu lauschen).

Blind Dates hatte ich auf dieser Reise fast täglich, so wie im christlichen Laden coffee, books & art
Versuche nun, dem Tipp von Peggy folgend, zum Nieuw markt durchzustoßen, ausgerüstet mit meiner gay map AMSTERDAM 2024/´25 (und 2026 groovt sich diese Stadt auf WORLD PRIDE AMSTERDAM ein). Umwege erhöhen die Ortskenntnis, ich gelange zum Montelbaanstoren:

Und dann sitze ich auf einem Stuhl an einem Tisch, der sich prima zum Notieren von Reiseeindrücken eignet und wundere mich, was vor mir auf dem Wasserweg der RECHTBOOMSLOOT so alles vorbeikommt. De lachende Jordanees zum Beispiel. Das ist ein Bootsname. Die Gefährte sind sehr divers, alle Grachtenfahrer*innen haben beste Laune.

Lehne mich zurück und werde Teil dieser fröhlichen human beings, die sich hauptsächlich mit dem Dasein selbst befassen.

Clara ist an diesem wonnigen und sonnigen Tag an Bord geblieben und hat Interviews gedreht. Knoten für Knoten knüpfen wir das Seefrauengarn über SAILING CARGO & PROJECTS.
